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Archiv-Artikel

Teure Bildung im Schattensystem

NACHHILFE Der Markt boomt. Verunsicherte Eltern investieren 1,2 Milliarden in privaten Extraunterricht. Qualitätsstandards gibt es kaum

Pauken fürs Gymi

Die Nachhilfe boomt. Längst zielt sie nicht mehr allein darauf, das Sitzenblieben zu verhindern. Viele Eltern wollen ihren Kindern auf höhere Schulen nachhelfen. „Bei Grundschülern geht es mittlerweile oft um die Empfehlung fürs Gymnasium“, berichtet Andrea Heiliger vom Bundesverband der Nachhilfe- und Nachmittagsschulen. Der Verband wurde einst mit 15 Instituten gegründet – heute gehören ihm fast 3.000 an. Derzeit lässt das Wachstum des Verbandes nach. Die Nachhilfe-Lobby will aber bemerkt haben, dass der graue Markt wächst – das sind Angebote von Einzelpersonen. Auf dem grauen Markt böten etwa Studenten, Lehrer nach Feierabend und pädagogisch Ungebildete ihre Dienste an. Trotz des Qualitätsproblems: Nachhilfe ist für Familien essenziell geworden. Bevor sie bei der Bildung der Kinder sparten, verzichteten sie lieber auf Konsum, stellen die Anbieter fest. (ü.o.)

AUS BERLIN KATRIN SCHAAR

Die Stimmung ist gut. An den Wänden hängen groß eingerahmte Grammatikregeln, mathematische Grundformeln und Bilder von Miro. „Mir gefällt es hier, weil sich die Lehrer um die persönlichen Schwächen kümmern und weil es hier lustig ist“, sagt eine dreizehnjährige Gymnasiastin. Ein Viertklässler erledigt zunächst seine Mathehausaufgaben und sucht später die richtigen Artikel zu Wörtern wie „Ball“ und „Tag“. Wir sind zu Besuch bei der Nachhilfe. 300 Schüler kommen pro Woche in die Spandauer „Schülerhilfe“ – die größte in Berlin.

Jeder achte bis zehnte Schüler nimmt in Deutschland heute Nachhilfe. Im Laufe des Schullebens ist es nach Schätzungen sogar jeder vierte. Angeboten wird die Paukstunde in kommerziellen Instituten, zu Hause oder direkt an der Schule. Nach Berechnungen der Lehrergewerkschaft GEW ist Deutschland Schlusslicht im Verhältnis zwischen schulischer und privater Nachhilfe. Das heißt: Mehr als die Hälfte der Nachhilfeschüler besuchen kommerzielle Institute.

Die Nachhilfeinstitute boomen. Waren es Mitte der 80er-Jahre noch geschätzte achthundert Nachhilfeschulen, sind es heute drei- bis viertausend. Marktführer sind der „Studienkreis“ und „Schülerhilfe“ – mit jeweils mehr als 1.000 Filialen.

Noch sind es überwiegend Schüler der Mittelstufe, besonders aus Gymnasien und Realschulen, die Nachhilfe suchen. Doch die Nachfrage steigt auch in der Grundschule. „Es kommen schon Kinder aus der dritten und vierten Klasse“, beobachtet Schülerhilfe-Lehrerin Katharina Möller. Die Eltern verspürten mittlerweile so einen Druck, dass sie nach fremden Möglichkeiten suchten, Defizite so früh aufzufangen wie möglich.

„Die Eltern möchten, dass die Kinder auf eine gute weiterführende Schule kommen“, berichtet auch Sandra Schwarz, Leiterin des „Studienkreises Berlin-Charlottenburg“. „Besonders zum Schulwechsel und in der siebten Klasse brauchen die Kinder Unterstützung, um das Probejahr zu bestehen“

Der Trend zur Nachhilfe ist global. In Japan und Korea gehört Nachhilfe zum guten Ton. Sie gilt als Voraussetzung, um in Eliteunis aufgenommen zu werden. In Großbritannien führen Schulrankings zu starker Nachfrage an beliebten Schulen. Experten sprechen schon von einem „shadow education system“, einem Schattenbildungssystem. Wie ein Schatten folgt es dem regulären Schulsystem – aber nicht vom Staat kontrolliert.

Nachhilfe wird zum Faktor für Erfolg. Die Anbieter werben mit Zauberwörtern wie Teamarbeit, Coaching oder Erfolg. Der Unterricht soll „zeitgemäßen pädagogischen Konzepten“ folgen und „professionell“ und „ganzheitlich“ sein. Im Studienkreis Berlin-Charlottenburg stehen die Tische eng hintereinander. Wie auch bei der Schülerhilfe arbeiten fünf Kinder aus unterschiedlichen Klassenstufen in einem Nachhilfeblock à 90 Minuten.

Gerade geht’s um Mathe. Die Schüler erledigen entweder ihre Hausaufgaben oder bekommen vom Nachhilfelehrer Aufgaben gestellt. Moderne Methoden oder Teamarbeit, wie auf der Internetseiten angekündigt, kommen dabei eher nicht zum Einsatz. Zehn Minuten wird Organisatorisches besprochen: Welche Arbeiten wurden geschrieben, mit welchem Erfolg, welche Arbeiten stehen zu welchem Thema an? Das wird alles individuell auf Schülerbögen dokumentiert.

„Manche Eltern wünschen sich Zusatzaufgaben zum aktuellen Schulstoff“

Der Nachhilfelehrer ist ein frisch diplomierter Betriebswirt. Er spricht mit den einzelnen Schülern, blättert die Hefter durch, erdenkt passende Aufgaben aus dem Stegreif. Rechnerisch kann er sich pro Kind in einer solchen Sitzung ungefähr eine Viertelstunde Zeit nehmen. Den Rest arbeiten die Schüler alleine. Der Reihe nach beschäftigt er sich mit einem Schüler, erklärt, ermuntert oder zeichnet Kurven und Brüche an die Tafel. Die anderen sollen währenddessen an ihren Dingen weiterarbeiten.

Das klappt nur bedingt, die Schüler sind unterschiedlich konzentriert dabei: Einige arbeiten tatsächlich, andere zeichnen lieber Männchen aufs Löschpapier oder spielen am Stift herum. Es ist später Nachmittag, ein langer Schultag liegt hinter ihnen. Einige sind auch davon abgelenkt, dass der Lehrer andere Themen mit anderen Schülern laut bespricht. Immer wieder ermuntert der Nachhilfelehrer die Schüler. Bei manchen hilft das aber nur kurzfristig. Eine Fünftklässlerin, die geometrische Formen bearbeitet, kommt einfach nicht weiter.

Parallel sollen die Linien sein, doch das Mädchen weiß nicht, was parallel ist. „Denk mal an Schienen,“ ermutigt der Nachhilfelehrer und zeigt ihr schnell, wie man das Geodreieck verschieben kann. Doch am Ende der Stunde stimmt die Zeichnung immer noch nicht. Andere wiederum sind gut vorangekommen. Die Hauptsache ist, dass da jemand ist, der erklären und Fragen beantworten kann. Das nutzt vor allem den Schülern, deren Eltern selbst Mathe nicht können oder noch nicht richtig Deutsch sprechen.

In der Gruppe sind überwiegend Kinder mit Migrationshintergrund. Die Leiterin vom Studienkreis Berlin-Charlottenburg, Sandra Schwarz, spricht von ungefähr 70 Prozent Kindern mit Migrationshintergrund in ihrer Filiale. In die Nachhilfeinstitute kommen nicht nur Bildungsbürger, sondern Eltern, denen zwar der schulische Erfolg ihrer Kinder am Herzen liegt, die aber keine Zeit oder Kenntnisse haben, selbst zu helfen. Weniger gut betuchte Eltern seien sogar ihre Kernklientel, sagt die Sprecherin der Schülerhilfe, Marion Lauterbach, und ergänzt: „Die Eltern, die bessere finanzielle Spielräume haben, lassen sich die Nachhilfe nach Hause kommen, die kennen die richtigen Personen im privaten Umfeld. Die Handwerker und Alleinerziehenden haben diese privaten Kontakte eher nicht.“

Wenig Informationen gibt es über die Qualifikation der Mitarbeiter. Zwar werben alle Institute mit hoher Professionalität – doch was dahintersteckt, ist unklar.

Die Stiftung Warentest rät dazu, auf Qualitätssiegel zu achten. Der Studienkreis lässt sich vom TÜV Rheinland mit einem „Qualitätssiegel Nachhilfe“, die Schülerhilfe vom TÜV Nord nach der ISO-Norm 9001 zertifizieren. Natalie Engst vom TÜV Rheinland erklärt, dass geprüft wird, wie Vertragsbedingungen sind, wie der Lernfortschritt dokumentiert wird und ob es individuelle Förderpläne gibt.

„Zur Nachhilfe kommen schon Kinder aus der dritten und vierten Klasse“

Das Zertifikat macht Aussagen über alles Mögliche – die Qualität des Nachhilfeinstituts, die Rahmenbedingungen des Unterrichts und der Lehrräume sowie die Qualifikation des Lehrpersonals. „Wir besuchen stichprobenartig einen Unterricht in einem Institut und schauen, ob beispielsweise nur frontal unterrichtet wird oder individuell oder wie mit den Schülern gesprochen wird.“ Die Honorarkräfte dürfen keiner Sekte oder verfassungsfeindlichen Organisation angehören und auch keine Vorstrafen haben. Auch Schüler dürfen nicht unterrichten.

Die ISO-Norm 9001 sagt etwas über den Rahmen für Prozesse aus, Inhalt allerdings wird nicht bewertet. Regelmäßig geschult werden die Institutsführungen in Leitungs- und Verwaltungsfragen, erzählt die Gebietsleiterin der „Schülerhilfe Spandau“, Ruth Karst. Die Nachhilfelehrer müssen sich allerdings selbst weiterhelfen. „Es ist mehr Learning by Doing. Mit der Zeit weiß man, was man wie machen kann“, erläutert Nachhilfelehrerin Katharina Möller. Sie wartet auf ihr Referendariat und ist insofern schon gut ausgebildet. Bei der Schülerhilfe unterrichten zu je einem Drittel Studenten, Lehrer und Akademiker verschiedener Richtungen. Ähnlich beim Studienkreis: In Charlottenburg unterrichten neben Lehrern oder Lehramtsstudenten, die kurz vor ihrem Abschluss stehen, zum Beispiel auch Maschinbaustudenten oder eine Fremdsprachenkorrespondentin. Eine pädagogische Qualifikation kann also, muss jedoch bei den Honorarkräften, die in den Instituten für ungefähr 10 Euro pro Stunde arbeiten, nicht vorhanden sein.

Zwischen 99 und 146 Euro zahlen Eltern monatlich für zweimal 90 Minuten Nachhilfe. Das Zukaufen der Bildung, befürchten Kritiker, verstärkt soziale Unterschiede. Dieter Dohmen vom Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie berechnet ein Marktvolumen von bis zu 1,2 Milliarden Euro für den kommerziellen Nachhilfesektor. Doch der ist ausbaufähig – denn die Motive verändern sich. „Manche Eltern wollen nur, dass die Kinder hier ihre Hausaufgaben erledigen, andere möchten Zusatzaufgaben zum aktuellen Stoff eines Fachs, um den Schülern mehr Sicherheit zu geben“, erläutert Katharina Möller. In der kleineren Lerngruppe können sie nachfragen, wenn sie etwas noch nicht verstanden haben. Ruth Karst von der Schülerhilfe Spandau wundert sich, dass Kinder aus Ganztagsgrundschulen vermehrt bei ihr angemeldet werden. Manche Eltern scheinen verunsichert, ob die Schule ihren Kindern alles vermitteln kann, wenn sie selbst sie nicht unterstützen können.

Nahm früher nur Nachhilfe, wer schlechte Noten verbessern wollte, will heute auch besser werden. Eltern erhoffen sich damit bessere Startchancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Schülerhilfe bietet „Coaching“ und „Kommunikationskurse“, der Studienkreis eine „Kinderlernwelt“ und „Lernkompetenzkurse“. Doch auch große internationale Anbieter wie das japanische Kumon-Institut oder „Helen Doron Learning Centres“, eröffnen überall in Deutschland Filialen. Sie unterrichten Kinder schon ab einem Alter von drei Monaten. Der Bildungsmarkt scheint offen für weitere Expansion.