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Archiv-Artikel

Gewaltzone Norddeutschland

In den Nordländern werden doppelt so viele Gewaltverbrechen verübt als im Süden

SAARBRÜCKEN taz ■ Gleich zum Auftakt der Fachtagung für kommunale Kriminalprävention verwies der habilitierte Psychologe Helmut Kury auf eine „ganz sicher nicht sehr zuverlässige, aber dennoch signifikante Statistik“ aus dem 13. Jahrhundert. Damals seien im Deutschen Reich rund 22 Prozent der Menschen durch Gewaltakte ihrer Mitmenschen vom Leben zum Tode befördert worden. Heute dagegen werde gerade einmal noch ein Prozent der Menschen in Westeuropa mit einer brutalen Gewalttat konfrontiert. „Da leben wir aktuell ja in geradezu paradiesischen Zuständen“, so Kury.

Allerdings räumte der Wissenschaftler vom Freiburger Max-Planck-Institut ein, dass die Zahl der von der Polizei registrierten Gewalttaten vor allem von Jugendlichen und Heranwachsenden seit 1954 rapide gestiegen sei. Die aktuelle Gewaltkriminalität und die zunehmende Akzeptanz von Gewalt gerade bei jungen Männern sei ein „gesellschaftliches Phänomen“. In Frankreich etwa sei die Gewalt in den Vorstädten ja gerade eskaliert.

Und in Deutschland? Dass solche Gewalteruptionen „auch bei uns möglich“ seien, glaubt die saarländische Innenministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) zu wissen, „allerdings nicht in diesem flächendeckenden Ausmaß“. Das liege nicht zuletzt an der oft ehrenamtlichen Arbeit der Präventionsräte, die es inzwischen in vielen deutschen Städten und Gemeinden gebe.

Das sieht die Päpstin der deutschen Kriminologie, die habilitierte Juristin Britta Bannenberg von der Universität Bielefeld, ganz genauso. Verbrechens- und Gewaltprävention mache viel Sinn, so Bannenberg, „wenn sie sich nicht in gut gemeinten Einzelmaßnahmen erschöpft, sondern komplex angelegt ist“. Denn die Ursachen für die steigende Gewaltbereitschaft seien gleichfalls sehr vielschichtig.

Die Bevölkerungsgruppen, die Probleme bereiteten, müssten klar benannt werden, damit Präventionsarbeit auch zielgerichtet geleistet werden könne. Da seien seit den Siebzigerjahren „auch aus falsch verstandener, politisch motivierter Rücksichtnahme viele Fehler gemacht“ worden. Wenn etwa junge Russlanddeutsche ständig „Stress machen“, dann müssten die Kommunalpolitiker das auch klar sagen.

Besondere Sorge bereitet der Expertin aktuell die Radikalisierung und steigende Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen und Heranwachsenden islamischen Glaubens. Auch die gewalttätigen Rechtsradikalen blieben, so Bannenberg, im Blickfeld der Kriminologen. Gute Aussteigerprogramme hätten allerdings schon einiges bewirkt.

Die Referenten forderten übereinstimmend, mit der gewaltpräventiven Arbeit schon in den Kindergärten und in den Grundschulen zu beginnen. Zudem sei die Integrationsarbeit zu forcieren und die Jugendarbeitslosigkeit konsequent zu bekämpfen. Das sei ein zäher Prozess, sagt Bannenberg. Im US-Bundesstaat Washington habe es mehr als eine Generation gedauert, bis umfassende gewaltpräventive Maßnahmen Erfolge gezeitigt hätten – von der Familienhilfe über permanente Toleranzerziehung in den Kindergärten bis hin zur Einübung von gewaltpräventivem Verhalten in allen Schulen. Inzwischen sei die Verbrechensrate in der US-Hauptstadt „drastisch gesunken“.

Als auffällig bezeichnete Psychologe Kury die regionalen Unterschiede. In Norddeutschland würden in Relation zur Bevölkerungsdichte mehr als doppelt so viele Gewaltverbrechen verübt als in Süddeutschland. In Schleswig-Holstein gebe es auch mehr Selbstmorde, mehr tödliche Verkehrsunfälle, mehr Ehescheidungen – und sehr viel mehr Arbeitslose und Arme sowie ein sehr viel niedrigeres Bruttosozialprodukt als in Bayern.