: Vom Wohnen und vom Leben
VON SIMONE SCHMOLLACK UND SANTIAGO ENGELHARDT (FOTOS)
„Tach, Elfi. Sach mal, wer hat dich denn gebissen?“ – „Sag ich nicht, ist mein Geheimnis.“ Elfi, die drahtige Mittachtzigerin, hat eine kleine Wunde an der Nase, als sie zur Nachmittagszeit das Seniorencafé betritt. Es duftet nach Kaffee und Streuselkuchen. Sie steuert auf den Tisch zu, an dem zwei weitere Frauen schon die Karten mischen. Die drei treffen sich hier jeden Montag zum Spielenachmittag. Mal ist es Rommé, mal Canasta. Die drei werden regelmäßig zehn Jahre jünger geschätzt, als sie sind. Gertrud Lohse ist 91. „So alt fühle ich mich aber nicht“, sagt sie lächelnd. Emmi Koch ist 89. Sie meint: „Das liegt daran, dass wir hier wohnen.“
„Hier“, das ist ein Haus in einer Neubausiedlung in Ostberlin, einer wenig charmanten Gegend: Lichtenberg, das kurz nach der Wende in die Schlagzeilen geriet, weil sich hier rechtsradikale Gruppen breitmachten. Das Seniorencafé liegt im Erdgeschoss eines gewöhnlichen Plattenbaus. Bis auf einen Lebensmitteldiscounter und ein paar kleine Läden gibt es kaum Infrastruktur. Doch die Damen leben gern hier, gern und gut, das sieht man ja.
Ihr Antiagingmittel heißt „Miteinander Wohnen“ – einerseits Programm einer selbst gewählten Lebensform, andererseits Name eines Vereins, der für Gertrud Lohse, Emmi Koch, Elfi und weitere ältere Frauen und Männer da ist. Sie leben längst, wovon seit geraumer Zeit verstärkt die Rede ist: in alternativen Wohnformen für ältere Menschen.
Gertrud Lohse bewohnt in der 7. Etage des 16-Geschossers eine Zweizimmerwohnung. Küche, Bad, zwei Balkone, eine kleine Kammer. Fünfzig Quadratmeter sonnige Südseite und ein unendlicher Blick über die Stadt. Die rustikalen Möbel in den kleinen Zimmern haben eine Vergangenheit in einem geräumigen Haus hinter sich. Gertrud Lohse hat alles aufeinander abgestimmt. Ihr neuestes Stück ist ein Fernseher, für ältere Menschen der direkteste und bequemste Kontakt zur Welt.
Gertrud Lohse wohnt allein in der Wohnung, ihr Mann ist vor Jahren gestorben. Aber sie lebt hier nicht allein: „Emmi und die anderen sind wie eine zweite Familie für mich.“ Sie rudert beim Sprechen mit den rundlichen Armen, ihr Busen hüpft, die Lunge pfeift. „Wir wollen unser Alter bewusst erleben, selbst bestimmen, was wir wann und warum tun.“ Anders als im Seniorenheim, in dem feste Regeln für alle gelten. „Außerdem ist so ein Heim viel zu teuer“, sagt sie, „meine Kinder sollen dafür nicht bluten.“ Allein leben wollte sie, aber Hilfe sollte, wenn nötig, schnell zur Stelle sein – Frau Lohse hat es mit dem Herzen. Die Lösung ihres spezifischen Problems fand sich hier in der Volkradstraße 8. Zu verdanken ist das dem Zusammenspiel von Wohnungsbaugenossenschaft und „Miteinander Leben e. V.“.
Der Verein hat sich 1991 gegründet. Damals erkannte die Vorsitzende Gudrun Hirche, dass es sehr bald nötig sein würde, im Kiez lebende ältere Menschen zu betreuen. In welcher Form auch immer. Hier in Lichtenberg ist der Anteil von 60- bis 65-Jährigen deutlich höher als in der gesamten Bundeshauptstadt.
Bei ihren Überlegungen ging Gudrun Hirche nicht einmal von sich aus. Obwohl sie es hätte tun können. Heute ist sie 81 und sieht aus wie 71. Früher hat sie als Lehrerin gearbeitet und nach der Wende mit 66 Jahren noch einmal Pädagogische Psychologie studiert. Vor 17 Jahren wurde sie das erste Mal Urgroßmutter, theoretisch könnte sie demnächst Ururgroßmutter werden. Die stellt man sich tuttlig vor, verschroben. Aber Gudrun Hirche hat die Adressen fast aller Vereinsmitglieder parat, sie weiß jede Änderung im Geriatrierahmenplan mit einem Datum zu versehen, täglich macht sie Gymnastik.
Den Verein nennt sie ihren „Altersjob. Ich würde ihn gern abgeben. Aber kennen Sie jemanden, der 200 Stunden im Monat ohne Bezahlung arbeitet?“ Wenn sie hier im Vereinscafé auftaucht, kann sie kaum in Ruhe ihren Kaffee trinken. „Ich muss kurz telefonieren“, sagt sie, „bin sofort wieder da.“ Nach einigen Minuten taucht sie wieder auf, um gleich wieder zu verschwinden. Ein Detail der Tagesfahrt nach Sachsen muss noch geklärt werden. Das Telefon schrillt. Die Frau aus der Küche nimmt ab: „Frau Hirche, für Sie.“
Als ABM-Projekt mit sieben Leuten hat „Miteinander Leben“ begonnen. Mitte der Neunziger Jahre zog der Verein ins Parterre des Hochhauses, bald darauf wurden das Café und der „Club der aktiven Neunzigjährigen“ gegründet. Mitglieder waren Frauen und Männer aus der Umgebung, heute sind es über 400. Sie trafen sich, um gemeinsam zu spielen, zu reden, Vorträge zu hören. Sie machten Ausflüge und Sport. Hin und wieder seufzte eine: „Hach, man müsste auch zusammen wohnen.“
Das hörte Gudrun Hirche wohl. Als sie um die Jahrtausendwende erfuhr, dass die Genossenschaft das Hochhaus sanieren wollte, in dem damals junge Familien, Singles, kinderlose Paare und Ältere wohnten, klopfte sie an die Tür der Geschäftsleitung. Es wäre doch clever, schlug Gudrun Hirche vor, nach der Sanierung vor allem jene älteren Damen und Herren im Haus unterzubringen, die ohnehin fast täglich ins Café kommen. Die Genossenschaft fand die Idee gut. Und wenn saniert wird, ließ Gudrun Hirche nicht locker, warum dann nicht gleich nach den Bedürfnissen der alten Leute? „Für uns ist es doch auch ein Gewinn, wenn sich die Leute wohl fühlen“, sagt Bernd Madel, Serviceleiter der Genossenschaft.
Gertrud Lohse hatte genaue Vorstellungen. Ein großes Bad sollte es sein. Und keine Wanne, lieber eine Dusche. „Aus der Wanne kann ich allein so schwer aussteigen.“ Die kleine Frau kam aus Zwickau in Sachsen nach Berlin. Sie wäre noch dort, würde es dieses Haus hier geben. „So bin ich mit 88 noch einmal umgezogen und bereue es keine Sekunde.“
Derzeit wohnen mehr als 50 Frauen und Männer im Haus, die vom Verein betreut werden. Sozial, psychologisch, medizinisch. Ist die Ärztin im Haus, kann sie gleich mehrere Patienten behandeln. Fährt der Wäschedienst vor, packt der Fahrer mehrere Pakete saubere Wäsche aus und schmutzige wieder ein. Einmal in der Woche kommt Dr. Jammer, die Turnlehrerin, jeden Donnerstag Elke Rieder zum Keramikkurs. Täglich ist jemand da, der hilft, Formulare auszufüllen, der weiß, welcher Facharzt wo zu finden ist. Wen die senile Bettflucht umtreibt, der klingelt einfach beim Nachbarn und fragt nach einem Cognac. Zum Einschlafen.
Heute gibt es bundesweit alternative Wohnprojekte, darunter ökologische, feministische, generationsübergreifende. Manche lassen den veränderten Bedürfnissen entsprechend Wohnungen und Wohnanlagen umbauen, andere kaufen Häuser. Meist sind die Projekte privat finanziert. Das Bundesfamilienministerium fördert mit knapp anderthalb Millionen Euro die Modellreihe „Mehr Gemeindeintegration – zukunftsweisendes Wohnen, bessere gesellschaftliche Teilhabe“, derzeit sechs Projekte. Weil die gezeigt haben, dass gemeinschaftliches Wohnen im Alter Sinn macht, ist im neuen Koalitionsvertrag erstmalig festgeschrieben worden, grundsätzlich alternative Wohnformen zu unterstützen. Wenngleich laut Aussage eines Mitarbeiters der Pressestelle „immer ein Finanzierungsvorbehalt“ bestehe. Nur die besten Förderanträge würden bewilligt und auch nur, wenn Geld da ist.
Künftig jedoch wird es unabdingbar sein, solche Modelle finanziell abzusichern. Weil sie eine humane und vor allem die preisgünstigste Variante sind, alte Menschen an einem Ort zu betreuen. Diejenigen, die einmal solche Wohnmodelle nutzen werden, gehören nicht mehr der Generation an, die sich ein Polster ansparen konnte. Laut Expertenaussagen wird im Jahre 2040 jeder dritte Bundesbürger über 65 sein. Heute sind diese Frauen und Männer gerade 30 und hören täglich, dass ihre Rente alles andere als sicher ist.
Gertrud Lohse bekommt heute schon eine minimale Rente, sie hat keine Ersparnisse. Auch wenn sie ihr Leben lang als Erzieherin hart gearbeitet hat. Für ihre Wohnung zahlt sie 450 Euro Warmmiete.
Eine klassische WG kam für Gertrud Lohse nicht in Frage. „Ich habe mein Leben lang in einem Haus gewohnt, ich hatte immer meinen Freiraum“, sagt sie. Da könne sie nicht auf ihre alten Tage so etwas „Neumodisches“ ausprobieren. Ohnehin haben Erfahrungen aus anderen Alters-Wohngemeinschaften gezeigt, dass aus langjährigen besten Freunden binnen kurzem Feinde werden können. Das Problem sind Kochtopf und Klo.
Davon bleiben die Bewohner in der Volkradstraße verschont. Von zwischenmenschlichen Differenzen, Stimmungen und schlechter Laune indes nicht. Doch die lassen sich leicht umgehen: Wer auf irgendwen oder irgendetwas keine Lust hat, macht einfach seine Tür hinter sich zu. Und wenn sich zwei nicht leiden können, gehen sie sich aus dem Weg. „Gibt es mal ernsthaft Streit, dann reden wir“, versichert Gertrud Lohse und streckt ihren Rücken durch. „Schließlich sind wir keine Teenies mehr!“
„Schade ist, dass so wenige Männer hier sind“, sagt Emmi Koch. Das Alter ist eben weiblich, hält Gudrun Hirche entgegen, „Frauen leben einfach länger.“ Ihr Mann ist vor neun Jahren gestorben. Das verschobene Geschlechterverhältnis im Alter bekommt Willi Scharsig öfter zu spüren. Er wohnt in der zweiten Etage, jeden Tag trinkt er im Café eine Tasse Kaffee, ein Glas Wasser und ein Glas Wein. Eigentlich weiß er sich gegen die Übermacht der Frauen zu wehren – er ist nicht auf den Mund gefallen. Trotzdem fühlte er sich überrumpelt, als er eines Nachmittags wie gewohnt in Filzpantoffeln und Anzug hereinschlurfte. Er hatte sich gerade erst hingesetzt, als vom Nebentisch, an dem gezockt wurde, gerufen und gewunken wurde: „Willi, nun komm doch auch mal zu uns. Gibt ja sonst kaum Männer hier.“ Ehe er sich’s versah, hockte er zwischen acht Frauen. Er kannte sie alle vom Sehen, sie kommen regelmäßig her. Erst haben Willi und die Damen geredet, dann gelacht und am Ende geflirtet. Heute muss er sich seine Ruhe mitunter hart erkämpfen. Dann bleibt er stur auf seinem Stammplatz sitzen und lässt die Frauen rufen.
Willi Scharsig ist 79. Im Januar 1944 hat ihm eine Splitterbombe Knochen der rechten Körperhälfte zertrümmert. Er kann seinen rechten Arm nur schwer bewegen, die rechte Hand kaum benutzen. Er ist auf fremde Hilfe angewiesen. Täglich kommt jemand, der ihm seine Strümpfe anzieht und in der Wohnung sauber macht.
Die Warteliste für eine Wohnung in der Volkradstraße 8 ist lang. „Hier zieht niemand mehr freiwillig aus“, sagt Bernd Madel. Verstirbt ein Mieter, wird die Wohnung sofort wieder vergeben. Vorrang haben die Alten.