IM FRÜHLINGSWINTER
: Sehen, wie es war

Komisch, wie schnell alles zur Gewohnheit wird

Kurz nach dem Käsekuchentag in der Kreuzberger Markthalle meinte man schon, es in den Frühling geschafft zu haben. Leute fuhren mit T-Shirts durch die Gegend. Und auf der Beerdigung von Christian Semler schien die Sonne am schönsten, um den Kollegen zu ehren. Wir standen da und guckten; Halbsätze der Redner flogen vorbei, man dachte zurück. An Jens, den 1995 verstorbenen taz-Hausmeister, der das Fußballteam des Hauses immer engagiert unterstützt hatte; an Harald Fricke, der im Sommer 2007 beerdigt wurde, daran, wie die 68er-Helden sich nun so allmählich verabschieden.

Die Zeit lief langsamer, blieb kurz stehen, und dann war es wieder Winter. Überall Schnee, hellgrauer Himmel und die Geräusche der Stadt von Weitem gedämpft. Manchmal fuhr der Wind in den feinen Schnee und wirbelte ihn vor dem Fenster auf. Im Finnischen wird so eine Jahreszeitumkehrung „Frühlingswinter“ genannt. Die Zeit bewegt sich rückwärts, und die Zukunft tritt höflich ein paar Schritte zurück, um der Vergangenheit Platz zu machen.

Nun war es Zeit zu gucken, was früher wohl geschehen sein mag. Man wühlte in alten Plastiktüten und scannte alte Bilder, die man Jahre nicht gesehen hatte. Nur manchmal stand man auf, um Zigaretten zu holen. Und machte es sich dann wieder im Gewohnten bequem. Komisch, wie schnell alles zur Gewohnheit wird. Und wie die Gewohnheiten Zeit vernichten. Man bemüht sich ja ab und an auch, „bewusster“ zu leben, indem man etwa versucht, jede Zigarette zu individualisieren, indem man ihr beim Rauchen mehr Aufmerksamkeit schenkt, Kaffee und Bier nicht einfach so herunterzuspülen. Zu denken, dass man mit dem Rauchen aufhören würde, wenn es nur noch Packungen mit Schockbildern gibt, weil man es zu erniedrigend fände, eine solche Packung zu verlangen, ist grauenhaft. DETLEF KUHLBRODT