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Archiv-Artikel

„Die EU hat unterschiedliche Standards“

BALKAN Der Präsident von Bosnien und Herzegowina, Zeljko Komsic, ist gegen die ethnische Teilung und setzt sich für eine neue Verfassung und einen funktionierenden Staat ein. Am Dienstag ist er in Berlin

Željko Komšić

■ 44, ist derzeit Vorsitzender der dreiköpfigen Präsidentschaft von Bosnien und Herzegowina. Er vertritt die kroatische Volksgruppe, erhielt jedoch auch Stimmen aus anderen Gruppen.

taz: Herr Komšić, Sie sind amtierender Präsident von Bosnien und Herzegowina. Blicken Sie optimistisch in die Zukunft?

Željko Komšić: Seit den Wahlen 2006 hat sich die Lage zum Schlechten verändert. Ich habe damals davor gewarnt, doch selbst bei dem Treffen des Friedensimplemtierungsrates in Brüssel (daran sind über 50 Staaten und internationale Organisationen beteiligt, die Red.) wollte man mir nicht mehr zuhören.

Worum ging es denn?

Die Regierung in Bosnien und Herzegowina hat die Dinge viel zu positiv dargestellt. Dabei ging im Hintergrund ein brutaler Kampf um die noch nicht privatisierten Ressourcen des Landes vor sich. Die internationale Staatengemeinschaft und das Büro des Hohen Repräsentanten haben ihren Kopf in den Sand gesteckt. Einige internationale Akteure machten alle Arten von Geschäften mit den Führern der politischen Parteien, um Firmen aus ihren Ländern Konzessionen für bisher nicht ausgebeutete Bodenschätze zuzuschanzen. Als ich das ansprach, nannte man mich einen Pessimisten.

Sie sind aber wirklich ein Pessimist in Bezug auf die Verfassung, die aus dem Friedensvertag von Dayton hervorging.

Das Abkommen von Dayton hat militärisch den Krieg beendet, nicht jedoch politisch. Die Durchsetzung der Kriegsziele spielen im politischen Leben Bosnien und Herzegowinas nach wie vor eine Rolle. Die Verfassung konnte weder die wichtigsten politischen noch die sozialen Probleme lösen, sie schuf sogar Ungleichheit zwischen den Individuen. Die Minoritäten haben nicht die gleichen Rechte wie die konstitutiven Nationen der Kroaten, Bosniaken und Serben.

Die Verfassung von Dayton hat einen bürokratischen Apparat geschaffen, der nicht finanzierbar ist und zudem alle Möglichkeiten der Obstruktion bietet. Die Verfassung verlagert die politische Macht in die Hände der Führer der politischen Parteien. Ein Führer einer Partei kann das ganze System kollabieren lassen. Wir brauchen jetzt funktionierende Institutionen, um den Weg in die EU und die Nato zu ebnen.

Im Herbst sind die Verhandlungen über die Verfassung unter Führung von Carl Bildt aber gescheitert. Wie soll es jetzt weitergehen?

Die Krise in Bosnien und Herzegowina ist nicht harmlos und kann potentiell für die Stabilität der gesamten Region gefährlich werden. Für mich gibt es nur diese Lösung: Die Bürger unseres Landes müssen bei den allgemeinen Wahlen im Herbst dieses Jahres entscheiden. Und das ist der Punkt, an dem ich wieder optimistisch werde. Ich denke, die Bürger werden den herrschenden Parteien eine Quittung geben und diesmal besser wählen.

Und dann?

Ohne eine neue Regierung wird es keine Bewegung nach vorne geben. Die zweite Voraussetzung ist die Änderung der Verfassung, um die Zentralregierung in die Lage zu versetzen, Verhandlungen mit der EU ohne die Obstruktion von einzelnen Parteien und Politikern einzuleiten.

„Die Verfassung von Dayton hat einen bürokratischen Apparat geschaffen, der nicht finanzierbar ist und zudem alle Möglichkeiten der Obstruktion bietet“

Montenegro und Makedonien haben seit 1. 1. 2010 Visafreiheit. Bosnien nicht. Warum?

Ich muss schon zugeben, zum Zeitpunkt, als entschieden wurde, waren wir noch nicht so weit, alle Bedingungen zu erfüllen. Inzwischen aber schon. Ich denke, dass wir im ersten Halbjahr dieses Jahres die Visafreiheit erreichen werden. Was mich aber ärgert, ist, dass andere Länder ebenfalls die Bedingungen nicht erfüllt hatten, aber dennoch in den Genuss der Visafreiheit kamen. Es ist zudem hart für uns, zu akzeptieren, dass ein Land (Serbien, die Red.), in dem einer der größten Kriegsverbrecher des 20. Jahrhunderts unbehelligt geblieben ist, Visafreiheit erhalten hat und den Kandidatenstatus für die EU beantragen konnte. Für die EU gelten offenbar unterschiedliche Standards.

INTERVIEW: ERICH RATHFELDER