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Archiv-Artikel

Die Mühen des Widerstands

REPORTAGE Ein halbes Jahr schon leben Flüchtlinge auf dem Oranienplatz in Kreuzberg – zwischen Frustration und Entschlossenheit

„Refugees’ Revolution“

■ Die Demo: Zum einjährigen Jubiläum ihres Asylaufstands wollen die Flüchtlinge am Samstag um 14 Uhr in einer Demo von ihrem Camp zum Bundestag ziehen. Ihr Motto: „Refugees’ Revolution“.

■ Der Protest: Seit Oktober protestieren die Flüchtlinge mit ihrem Zeltdorf für mehr Rechte. Kreuzberg duldet das Camp bis auf Weiteres, „solange dort politische Aktivitäten stattfinden“. Auch die Besetzung der Hauptmann-Schule wird als „Kältehilfe“ gewährt – eigentlich bis Ende März, um danach Kreuzberger Initiativen Platz zu machen. Da das Vergabeverfahren nun aber frühstens Ende April entschieden wird, dürfen die Flüchtlinge länger bleiben. (ko)

VON KONRAD LITSCHKO FOTOS MAGDALENA BICHLER

Der Sonntagmorgen hüllt den Oranienplatz noch in Schlaf. Mühsam schiebt sich die Sonne durch die weiße Wolkendecke, den Frost vertreibt sie nicht. Eine Joggerin mit Brötchentüte hastet vorbei an den grauen Zelten. Das Protestcamp.

Jetzt, um neun Uhr, sind die Planen noch zugeschlagen. Aus einem der Zelte stakt ein Ofenrohr, grauer Rauch quillt hervor. Leer und offen das blau-weiße Zirkuszelt, auch das Küchenzelt ist verwaist. Geschirr steht noch in den Abwaschwannen, über Nacht eingefroren im Wasser.

Im Zelt nebenan sitzen acht Männer aus Mali um einen Ofen, fast alle sind erst wenige Tage hier. Zwei von ihnen unterhalten sich gedämpft, die anderen starren schweigend auf die Planen, einer liest in einem Deutschlernheft. Hinter ihnen türmen sich Schlafsäcke und Decken auf dem selbst gezimmerten Bettenlager. Es gehe ihm schlecht, sagt einer. Es sei viel zu kalt, er sei krank. Arbeit suchten sie, sagen die anderen. Jetzt aber suchen sie vor allem Ruhe. „Sind doch gerade erst aufgestanden.“

Seit Oktober steht das Flüchtlingscamp in Kreuzberg, ein halbes Jahr. Es markiert den vorläufigen Höhepunkt einer Protestwelle. Sie begann letztes Frühjahr, als sich ein iranischer Flüchtling in Würzburg erhängte. In mehreren Städten traten Asylbewerber in den Hungerstreik, im Sommer zogen sie in einem Protestmarsch nach Berlin. Die Zelte auf dem Oranienplatz wurden geduldet. Seitdem liegt hier das Zentrum des deutschen Flüchtlingswiderstands.

Es ist Alnour, der gegen 11 Uhr das Camp zum Leben erweckt. Der junge Sudanese mit dem roten Basecap und dem freundlichen Lächeln schlägt die Plane zum Küchenzelt auf, wischt die Holztische, stellt die großen Alutöpfe auf die Gaskocher. Aus dem roten Bauwagen am Ende des Zelts holt er Stiegen mit Gemüse. Möhren, Zwiebeln, Paprika, Auberginen. „Gar nicht schlecht.“ Zum Mittag wird er dazu noch Nudeln kochen und etwas Huhn, zum Nachtisch gibt es Weintrauben – alles Spenden von der Berliner Tafel, die einmal in der Woche vorbeikommt.

Alnour könnte für das Camp kaum wichtiger sein. Der ruhige 27-Jährige ist einer der wenigen, die noch von Anfang an dabei sind. Und Alnour ist der Küchenchef. Er ist erster Ansprechpartner bei Problemen, er heißt Neuankömmlinge willkommen.

Vor einem Jahr floh der Sudanese vor den Unruhen in Darfur. Er landete in Braunschweig. Im September schloss er sich protestierenden Flüchtlingen an, die nach Berlin fuhren. Alnour erzählt das in hastigem Englisch. „Die Leute werden verrückt in den Lagern.“ Die vielen Leute in einem Raum, das monatelange Warten und Nichtstun, irgendwo an einem Stadtrand. „Sind wir Verbrecher? Nein. Warum werden wir dann so behandelt?“

Maler und Maurer war Alnour im Sudan. Jetzt bekochen er und seine Helfer die gut 100 Flüchtlinge, die hier und in der seit Dezember besetzten früheren Gerhart-Hauptmann-Schule leben. Immer mehr kommen ins Küchenzelt, balancieren über Holzpaletten, die auf dem Matsch liegen. Fast wortlos beginnen sie Zwiebeln zu schälen, Möhren zu schneiden. Im Radio laufen Charthits. Als Alnour das Essen auf die Teller löffelt, lockert sich die Stimmung auf. Jetzt wird an den Tischen geplaudert, gelacht, ein junger Mann singt vor sich hin. Nach dem Essen spielen einige draußen Fußball, jeder Hackentrick wird bejubelt. Etwas Unbeschwertheit, endlich.

Sechs Monate Protest. Nicht viele hätten gedacht, dass der Protest der Flüchtlinge so ausdauernd wird. Und dieser Tage sind sie wieder im Aufbruch. Gerade haben sie eine dreiwöchige Bustour beendet. Quer durchs Land, um Mitstreiter zu gewinnen. Am Samstag wollen sie mit einer Demonstration zum Bundestag ziehen. Im Juni folgt ein „Tribunal“ gegen die Bundesrepublik.

Die Forderungen sind noch dieselben: Keine Abschiebungen mehr, keine Sammelunterkünfte, keine Residenzpflicht – also die Auflage, den Landkreis oder das Bundesland nicht zu verlassen. Kaum vorstellbar, dass all das eingelöst wird: Es würde das deutsche Asylsystem aushebeln.

Aber Alnour und den anderen ist gelungen, was jahrelang unerreichbar schien: Sie haben eine der lobbyärmsten Gruppen auf die Agenda gehievt – sich selbst. Diesmal brauchte es keine Stellvertreter. Der Marsch, das Camp, der Hungerstreik vorm Brandenburger Tor, es waren ihre Ideen. Getragen von Menschen wie Patrick, der in Uganda für Schwule eintrat. Wie Napuli, die junge Sudanesin, die auf Podien für den Protest wirbt. Ashkan, der im Iran als Student protestierte. Der türkische Kommunist Turgay. Sie sprachen im Bundestag von ihren Nöten. Senatoren und eine Staatsministerin besuchten ihren Protest. Und dieser Protest, sagt Alnour, höre nicht auf, „bis wir unsere Rechte bekommen“.

Beschwerlicher Widerstand

Auf dem Oranienplatz zeigt sich aber auch, wie beschwerlich der Widerstand ist. Auf einer alten Couch hockt Idriss, auch er Sudanese. Der 39-Jährige trägt eine graue Steppjacke, lange Locken, den Bart gestutzt. Das Licht einer klapprigen Stehlampe fällt auf sein Gesicht, der Wind lässt die Zeltstangen knarzen. Neben ihm starrt Sadik, ein Landsmann, auf den kleinen Heizstrahler, er sagt die ganze Zeit nichts. Ein dritter schläft eingerollt unter Decken.

Hart sei das Leben hier, sagt Idriss, sein munterer Blick wird ernst. Auch er beklagt die Kälte. Nur mühsam sind die Zeltböden mit Stroh gedämmt. Die Öfen taugen nur bedingt, ein defekter brannte einmal ein Zelt nieder.

Aber für Idriss ist das Camp die letzte Chance. Ein Jahr schon ist er in Deutschland, einen Monat im Zeltdorf. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Sein Anwalt kämpft noch, aber es sieht nicht gut aus. Idriss war mal Koch, bevor er vor dem Bürgerkrieg floh. „Ich will nur in Deutschland bleiben“, sagt er. „Mehr nicht.“

Hart sei das Leben hier, sagt Idriss, und sein munterer Blick wird ernst

Es gibt viele wie Idriss hier. Da ist der junge Malier, der aus Italien kam und zwei Tage durch Berlin irrte, bevor er von einem Taxifahrer von dem Camp erfuhr. Oder Sunday aus Nigeria, etwas älter schon, der früher Waschmaschinen reparierte, keine Papiere hat, aber seine Familie holen will.

Es sind nicht wenige im Camp, deren Flucht vor dem Ende steht, denen die Abschiebung droht. Ihr Kampf ist anders, existenzieller. Sie haben das auch diskutiert, im Plenum. Führen die Geduldeten unter ihnen den gleichen Kampf, sollen sie mitstimmen dürfen? Geht es nicht um die Nöte jener ohne halbwegs sicheren Status? Die Iraner, die maßgeblich den Hungerstreik am Brandenburger Tor organisierten, plädierten für Letzteres. Und sie forderten, stärker die Ursache der Ausgrenzung zu kritisieren: den Kapitalismus. Am Ende zog sich die Gruppe zurück, ging nach Süddeutschland.

Es ist Nachmittag geworden, Angelika geht von Zelt zu Zelt, schiebt die Planen auseinander. „Everything okay?“ Die anpackende Frau mit den blonden Haaren und dem blauen Anorak nennen sie hier nur „the nurse“.

Angelika ist keine Krankenschwester. Aber sie betreut in ihrem Job traumatisierte Flüchtlinge, und sie ist Kreuzbergerin. Jeden Sonntag steht sie im Camp, von 12 bis 16 Uhr, ehrenamtlich. Heute kommt Suleyman zu ihr, ein großer junger Mann mit kindlichem Gesicht. Er öffnet den Mund, zeigt eine Zahnlücke, wackelt am Zahn daneben. „Gestürzt“, sagt er. Angelika schaut nicht lange, murmelt: „Der muss heute noch auf den Stuhl.“ Eine halbe Stunde später hat sie einen Termin organisiert, für Montag, immerhin, bei ihrem Zahnarzt.

Angelika will kein großes Gewese um ihr Engagement machen. „Ein Stück Nachbarschaftshilfe“, sagt sie. „Aber auch ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Die Bedingungen im Camp seien „maximal zehrend“. Keine Duschen, nur ein Toilettencontainer, dazu „das volle Erkältungsprogramm“. „Von der psychischen Belastung wollen wir erst gar nicht anfangen.“

Matze macht Schutz

Leute wie Angelika sind die zweite Säule des Camps – die „Supporter“. Anwohner, die Matratzen oder Geld vorbeibringen. Die sich auf die „Duschliste“ am Infozelt eingetragen haben, damit sich die Flüchtlinge auch mal unter warmes Wasser stellen können. Die sich ins Infozelt setzen, so wie an diesem Sonntag Annika und Sylvia. Studentin die eine, Krankenschwester die andere, zum ersten Mal dabei. Weil es wichtig sei, wie sie sagen, dass die Flüchtlingsprobleme öffentlich würden. Oder Leute wie Altpunker Matze, der schon seit Monaten nachts „Schutz macht“.

Und doch bleibt es eine alltägliche Überforderung. Mehr als hundert Menschen in ein paar Zelten und einer besetzten Schule, zuvor über Tausende Kilometer geflohen. Viele Schicksale, die in ein paar dünnen Zelten aufeinandertreffen. Erst vor ein paar Tagen ist wieder einer ausgetickt, hat in der besetzten Schule nach einem Streit einem Mitbewohner in den Rücken gestochen. Das Opfer ist im Krankenhaus, der Angreifer in Haft. Alnour, der Koch, tippt sich an die Schläfe. „Es schwirrt zu viel hier oben drin bei uns.“

Die Schule sollte einen Rückzugsraum bieten, für die Familien, für den Winter. Dann quartierten sich Obdachlose ein. „Irgendwann“, sagt ein Bewohner, „wusstest du nicht mehr, wer Flüchtling war und wer nicht.“ Die Besetzer zogen die Reißleine, ließen Fremde nicht mehr hinein. Trotzdem haben fast alle Familien, auch viele Frauen, den Protest inzwischen verlassen.

Dazu kommt die Angst vor der Polizei. Auch am Sonntag rollen drei Einsatzwagen vor das Camp. Die Flüchtlinge betrachten sie skeptisch. Dann Erleichterung: Die Beamten sind nur gekommen, um eine Parade zum St. Patricks’ Day zu begleiten.

Franz Schulz, der grüne Bezirksbürgermeister, hat vereinbart, dass die Polizei das Camp nur im Notfall betritt. Doch viele Flüchtlinge haben Vorladungen erhalten, weil sie gegen die Residenzpflicht verstoßen. Die Briefe ignorieren sie. Für andere wird es bereits ernster. Erst kürzlich erhielt einer der Wortführer des Protests, der Ugander Patras, einen Abschiebungsbescheid, auch weil er „die öffentliche Sicherheit gefährde“. Zwei Bewohner wurden unweit des Camps aufgegriffen und abgeschoben.

Was sich verändert hat

■ Geld: Als der „Refugee Strike“ vor einem Jahr begann, mussten Flüchtlinge und Geduldete von nur zwei Dritteln des Hartz-IV-Satzes leben – so wollte es das alte Asylbewerberleistungsgesetz. Doch im Juli entschied das Bundesverfassungsgericht: Existenzminimum ist Existenzminimum. Das Sozialministerium musste die Sätze neu berechnen. Seither zahlen die meisten Bundesländer Flüchtlingen Leistungen in annähernder Höhe von Hartz IV, auch Berlin. Ob das so bleibt, ist offen: Die Neufassung des Asylbewerberleistungsgesetzes kommt nicht voran. Während Ministerin Ursula von der Leyen (CDU) Asylbewerber deutschen Sozialleistungsempfängern gleichstellen will, pocht Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) darauf, dass sie auch künftig weniger bekommen sollen.

■ Sachleistungen: Nach dem Karlsruher Urteil haben einige Bundesländer den Sachleistungszwang ausgesetzt. Einzig Bayern und das Saarland halten an dem Prinzip fest – ebenso wie an der Lagerunterbringung.

■ Bewegungsfreiheit: Nachdem Hessen im Dezember die Residenzpflicht gelockert hat, dürfen sich Asylbewerber jetzt nur noch in Bayern, Sachsen und Thüringen nicht frei bewegen. (cja)

Für Schulz, seit sieben Jahren Bürgermeister im protesterprobten Kreuzberg, ist diese Art Widerstand dann doch neu. Ein Camp von Rechtlosen, das schon länger steht als jüngst das der Occupy-Bewegung. „Ich muss sagen“, bekennt Schulz, „was die auf sich nehmen, der Mut, in aller Erkennbarkeit aufzutreten, das ist beeindruckend.“

15 Uhr, Plenum im Zirkuszelt. „Meeting“, ruft Hamuri, ein Rasta-Träger aus Ruanda, kickt den Fußball der Bolzenden weg. Dreißig sitzen schließlich auf den Bierbänken. Hände graben sich in Jackentaschen, der Heizlüfter funktioniert nicht richtig. Geredet wird Englisch, jeder Beitrag wird ins Arabische und Französische übersetzt.

Ob der Schlüssel für den Küchenwagen wirklich in der Schule sein muss, fragt Hamuri. Mancher im Camp stehe morgens hungrig auf. Ob es nach der Demo am Samstag nicht eine Party in der Schulaula geben könne? Ein junger Mann meldet sich schüchtern. Er suche Arbeit, sagt er. Die Runde lacht auf. „Die suchen wir alle“, ruft Idriss.

Streit brandet auf: Aus der Campkasse sei Geld verschwunden. Ein Mann wird beschuldigt, es wird laut. „Wir müssen beide Seiten hören“, appelliert ein Unterstützer. Die Sache klärt sich auf: Das Geld wurde genommen, um Benzin zu kaufen. Die Kontrahenten geben sich die Hand. Nach knapp drei Stunden geht das Plenum zu Ende.

Ja, das Leben im Camp sei nicht leicht, sagt Alnour, als er am Abend wieder im Küchenzelt steht, mit einem langen Holzscheit in Linsen rührt. Er ist noch immer vom Protest überzeugt. Und jeder im Camp könne über sich selbst bestimmen. Mit dem Überschreiten der Residenzpflicht habe man bewusst eine diskriminierende Auflage verletzt. „Hier haben wir unsere Freiheit, nur hier.“

Die Holzbänke füllen sich wieder, gleich gibt es Abendessen. Aufgeben? Zurück ins Flüchtlingsheim nach Braunschweig? Alnour schüttelt den Kopf. Er blickt über die Töpfe, schaut in die Gesichter. Er kann gar nicht aufhören. „Es geht hier nicht um mich, es geht um uns alle.“

■ Um die Identität der Flüchtlinge zu schützen, haben wir auf die Nennung aller Nachnamen verzichtet