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Archiv-Artikel

Phänomene für Flaneure

Wolfsburg muss um Gäste buhlen. Denn nur für die 120.000 Wolfsburger ist das Angebot viel zu groß Irgendwann nerven die Floskeln auf dem Beton. Will man wirklich ständig „querdenken“?

AUS WOLFSBURG REINHARD KRAUSE

Wenn der ICE aus Berlin in Wolfsburg einläuft, wenden sich die Köpfe vieler Reisender nach rechts, zum Panorama von VW-Werk, Autostadt und Mittellandkanal. Seit kurzem aber recken sich die Hälse nach links – auf der Suche nach dem „phæno“. Wolfsburgs nagelneues Wissenschaftsmuseum wurde schon zu Baubeginn vor viereinhalb Jahren als Wunderwerk der Architektur angekündigt. Seit dem 24. November ist es endlich eröffnet – doch alles Halsverrenken im ICE beschert nur vage Enttäuschung: Wo ist es denn, Zaha Hadids Meisterwerk, die „Experimentierlandschaft“ aus Beton? Schwer zu sagen von hier aus. Den Bahngleisen zeigt das phæno nicht unbedingt das Hinterteil, wohl aber seine glatteste, unspektakulärste Seite. Man muss schon aussteigen, will man den eleganten Koloss in seiner ganzen Pracht erleben.

„Come in and find out“, dieser Satz könnte im Wolfsburger Wappen stehen. Denn die Stadt ist inzwischen selbst zur futuristischen Experimentierlandschaft geworden. Seit zehn Jahren strebt die 1938 auf der grünen Wiese gegründete VW-Stadt danach, sich in einen Dienstleistungs- und Hightechpark mit angeschlossenem Volkswagenwerk zu verwandeln. In kurzer Abfolge entstanden seither ein Kunstmuseum, die Volkswagen Arena – und vor allem die Autostadt, der konzerneigene Erlebnispark für Autokäufer und solche, die es werden sollen. Das phæno soll die Kette der Attraktionen nun vervollständigen und einen wissenschaftlichen Konterpart zu den Verführungswelten der Autostadt bilden.

Wolfsburg buhlt kräftig um Gäste von auswärts. Das muss es auch, denn nur für die 120.000 Einwohner ist das Angebot an Zukunftsdidaktik deutlich überdimensioniert. Und zu eindimensional. Allein die Autostadt soll Jahr für Jahr 300.000 zahlende Gäste anziehen, um rentabel zu sein; das phæno kalkuliert mit 180.000 Tagesgästen per anno. Klotzen statt kleckern war die Devise bei der Konzeption des „neuen“ Wolfsburg. Inzwischen hat Rolf Schnellecke, Wolfsburgs CDU-Oberbürgermeister, eingeräumt, dass das phæno bei der derzeitigen Wirtschaftslage heute wohl deutlich kleiner ausfiele. Allein Zaha Hadids spektakuläre – und anderweitig kaum bespielbare – Hülle hat 80 Millionen Euro gekostet.

Angesichts riesiger Freizeitparkflächen, die nur gegen Eintritt zu betreten sind – ein Tag im phæno kostet 11, ein Tag Autostadt 14 Euro –, ist es geradezu ein Geschenk Hadids an die Wolfsburger, dass sie das phæno zu ebener Erde als jedermann unentgeltlich zugängliche Raumskulptur entworfen hat: Den eigentlichen Ausstellungsraum hat sie darüber in sieben Meter Höhe gestemmt, getragen von zehn windschiefen Kegelstümpfen, Konen genannt.

Die vielfältigen Blickbeziehungen zwischen Innenstadt und Autostadt machen aus dem Unterbau des phæno tatsächlich einen windigen Abenteuerspielplatz für Flaneure. Unter dem Bauch des Gebäudes kann sich der Besucher wie auf der Versorgungsebene eines Raumkreuzers fühlen. Der hellgraue Sichtbeton – wie mag er in ein paar Jahren aussehen? – wirkt wie schwebend, und das, obwohl alle Massen sich nach oben verdicken.

Möglich geworden ist der kühne Entwurf nur durch einen neu entwickelten, „selbstverdichtenden“ Beton, der auch in schwungvollsten Verschalungen noch die notwendige Dichte erzielt. Nichts Schweres haftet dem Gebäude an, die unzähligen Beleuchtungsfelder unter dem Rumpf erwecken den Eindruck, das Gebäude leuchte von innen heraus oder werde von Licht durchstrahlt.

Die Fachpresse jubelt über den organischen Baukörper der aus dem Irak stammenden Architektin, deren Entwürfe früher vielfach ausgezeichnet, aber nur selten ausgeführt wurden. Vor kurzem hat Zaha Hadid, 55, einen Tisch entworfen, dessen Formen deutlich an das phæno erinnern. Drei niedrige, wie Kuheuter wirkende Beine tragen die Glasplatte des „Aquatable“. Das Wolfsburger Wissenschaftszentrum funktioniert so ähnlich: unten die Raumskulptur – oben wird aufgetischt.

Wie allerdings und, vor allem, wo kommt man ins phæno hinein? Auf einer weit nach vorn sich neigenden Glasscheibe steht zwar „Haupteingang“, aber das kann eigentlich nur ein Fenster sein. Weit gefehlt! Schwungvoll fahren die Scheiben zur Seite, wenn man sich ihnen nur genügend nähert. Ein Entrée wie in einem runderneuerten Raumschiff „Enterprise“.

Gleich hinter der Kasse fährt eine Rolltreppe den Kegelstumpf hinauf. Im Vergleich zu dem, was einen oben erwartet, ist die Treppe noch geradezu hundsgewöhnlich. Die Treppe ins zweite Stockwerk des phæno-Restaurants etwa lässt an den expressionistsichen deutschen Stummfilm denken. Statt eines Handlaufs neigt sich dem Besucher hier eine halbhohe Betonwand entgegen. Im Innern des phæno scheint es nicht eine lotrechte Wand zu geben, keine rechtwinkligen Türen oder Fenster: Der Ur-Anthroposoph Rudolf Steiner wäre von dieser Art, zu bauen, begeistert gewesen. Einzig die Dachkonstruktion mit ihrem geometrischen Raster wirkt wie ein rationalistischer Einwand gegen die sanft schwingenden Konen, deren Bewegung sich in den oberen Teil des Gebäudes fortsetzt. Zum Teil enden sie als begehbare „Krater“ inmitten der Wissenschaftslandschaft und werden dann als Restaurantküche oder Museumsshop genutzt.

Überall gibt es Sichtbeziehungen, jeder Konus gestattet Einblicke vom Experimentierfeld aus. Ob es allerdings das Küchenteam freuen wird, dass das Publikum durch Sichtschlitze gleichsam mit ihm hinter dem Tresen steht und auf Kundschaft wartet? Eine Orientierungshilfe im Spiel von Innen und Außen: Jede Außenwandung der Kegelstümpfe ist aus samtig schimmerndem Sichtbeton, nur die Innenseiten sind jeweils mit einer Dämmschicht versehen und lackiert.

Den architektonischen Finessen scheinen die überwiegend jugendlichen Besucher des phæno allerdings wenig Aufmerksamkeit zu schenken – was für die 250 bunt gemischten Experimentierstationen spricht. Zwischen den wohlgemut und konzentriert Station für Station erkundenden Mädchen und Jungen fallen nur wenige Ältere auf, die sich auf Schreibblöcken Notizen machen. Auf Nachfrage bestätigt sich der Verdacht: Es sind vorbildliche Lehrer, die einen Schulausflug vorbereiten.

Was rasch auffällt: phaeno-Betreuer („phaeno-men“ und „-women“ genannt) erteilen auf Wunsch Hilfestellung, lassen die Besucher aber ansonsten vollkommen in Ruhe experimentieren. Manche Versuchsstation verströmt ohnehin eine Aura von Physikunterricht, da wäre weitere Didaktik abträglich. Die meisten Experimente allerdings erklären sich keineswegs selbst. Erst wer die in Deutsch und Englisch verfassten Begleittafeln studiert, erfährt, was von ihm erwartet wird und warum der Versuch so und nicht anders ausgehen muss. Wer leseschwach ist, dürfte hier Schwierigkeiten haben, voll auf seine Kosten zu kommen.

Der Verblüffungsgrad der Experimente variiert: 3-D-Bilder kennt jeder, aber ein hin und her zuckendes „chaotisches Pendel“ gibt es vermutlich nur hier. Es ist übrigens eines der Lieblingsexponate des Kurators Joe Ansel, der schon das „Exploratorium“ in San Francisco ausgestattet hat. Man kann eine Sturmflut auslösen, Bremsbeläge testen, die Funktionsweise eines Katzenauges ergründen, einen Crashtest machen, mit Tönen Wellen erzeugen oder mit Wärme Töne. Das alles erinnert ein wenig an die vor Jahresfrist selig entschlafene „Knoff-hoff Show“ im ZDF.

Versuche, bei denen es auf Teamarbeit ankommt, sind deutlich in der Minderzahl, vielleicht aus Rücksicht auf Einzelgäste. Zu einer Blickbewegungsmessung etwa rät die Anleitung: „Wenn du alleine bist, blicke mit dem rechten Auge in die Kamera, während du mit dem linken Auge deine Augenposition auf dem Bildschirm kontrollierst.“ Hilfe!

Eine zentrale Botschaft des phæno lautet: Lerne, deine Wahrnehmung zu hinterfragen. Je länger allerdings der Aufenthalt dauert, desto mehr erwischt man sich bei dem Gedanken, dass Erfahrung und Erwartbarkeit einem das Leben durchaus erleichtern. Spätestens dann beginnen einen die auf den Beton projizierten Floskeln „Wenn es keine Fragen gibt, gibt es keine Antworten“ (John Cage) oder „Anyone who stops learning is old“ (Henry Ford) zu nerven. Will man sich wirklich ständig im „Querdenken“ erproben?

Dafür lernt man im phæno unbeabsichtigt noch ganz andere Dinge: etwa dass sich deutsche Durchschnittsbesucher nicht gern bei einem für sie ungewissen Experiment zuschauen lassen. Wer anderen über die Schulter schauen möchte, lernt eine ganz kreatürliche Form von Fliehkraft kennen.

Am Ende freut man sich besonders über ganz einfache Module. Etwa über einen Test akustischer Verzerrungen. Auf einem Schaltpult kann man links zwischen Tonvorlagen wie „Tropfen“, „Sängerin“ oder „Händel“ wählen, rechts lassen sich räumliche Simulationen ansteuern wie „Kirche“, „Philharmonie“, „Amphitheater“ oder „Treppenhaus“. Erstaunlich: Das antike Amphitheater schneidet in puncto Klangtreue und Verständlichkeit sehr gut ab. Eine Erklärung dafür wird nicht erteilt – ein Glück! Wirklich lustig allerdings ist erst die Kombination „Politiker“ und „Badezimmer“: Willy Brandt redet über die deutsche Einheit, Sozialverträglichkeit und Selbstbestimmung und klingt, als säße er neben einem auf der Bundestagstoilette und probe eine Rede.

Wer von all der Physik, der Biologie oder der Wahrnehmungspsychologie genug, aber noch Lust auf weitere Experimente hat, landet vielleicht in Wolfsburgs Kunstmuseum, wo zurzeit unter anderem „Fashion&Video“ gezeigt wird, eine hinreißende kleine Retrospektive von Hussein Shalayan. Dessen Arbeiten bewegen sich im Grenzbereich zwischen Haute Couture und Kunst – und sind in Wolfsburg besser aufgehoben als in jeder anderen deutschen Stadt.

Eine Fotoserie etwa zeigt eine junge Frau in einem Kleid, das wirkt wie ein lederner Autositz mit integrierter Nackenstütze. Eine andere, seltsam aerodynamische Kreation aus gepresstem Plastik erinnert eher an Fertigbauteile für die Flugzeugproduktion denn an ein Sommerkleid. Futuristische Kleidung, wenn auch ziemlich untragbar. Irritierend nur: Im Kunstmuseum beträgt das Verhältnis von Aufsichtspersonal zu Besuchern an diesem Freitagnachmittag ziemlich genau sechs zu eins.

Auf dem Rückweg zum Bahnhof fällt plötzlich auf, dass das Wort „Experiment“ für das Programm des phæno eigentlich falsch ist. Denn die Versuchsanordnungen sind selbstverständlich stets so konzipiert, dass nur ein vorab festgelegtes Ergebnis eintreten kann. Und in dieser Hinsicht unterscheidet sich die künstliche Experimentierlandschaft phæno vom realen Versuchsfeld Wolfsburg dann doch ganz erheblich.