Übermut nach dem ersten Sex

DEBÜT Neue Bilder, neue Geschichten: „Jenseits der Mauern“ des belgischen Regisseurs David Lambert ist ein Beispiel für ein anderes schwules Kino, in dem Alltagsprobleme Priorität vor Befindlichkeiten haben

Am Anfang steht ein Absturz. Zwei Männer, Paulo und Ilir, lernen sich in einer Bar kennen. Paolo betrinkt sich, Ilir arbeitet hinter dem Tresen und nimmt Paulo, weil er nicht mehr zurechnungsfähig, mit nach Hause. Kurz überlegt Ilir, die Situation auszunutzen, macht dann aber vor der Unterhose des Betrunkenen halt.

Der belgische Regisseur David Lambert skizziert in seinem Erstlingsfilm den Beginn einer Zufallsbekanntschaft, und das wunderbar unprätentiös und klischeefrei. Der großen Liebe stehen zunächst die Freundin von Paulo, eine Reihe von Ängsten und der Wunsch nach Unabhängigkeit im Weg. Dreimal miteinander zu schlafen bedeutet eben oft noch nichts, vor allem nicht, dass der eine mal eben beim anderen einziehen kann. Paulo, jung, schmächtig und anhänglich, scheint auch nicht eben die Idealbesetzung für den kernigen Albaner Ilir, der nicht sofort händchenhaltend durch seine Nachbarschaft spazieren möchte. Sobald man aber befürchtet, dass die klassischen Konflikttopoi einer schwulen Liebesgeschichte – Herkunft, Religion, Coming-out, Familie, Homophobie – standardmäßig bedient würden, schraubt Lambert seine Geschichte weiter und setzt andere Konflikte in den Mittelpunkt. Ilir kommt von einer Reise nicht zurück, da er wegen Drogenbesitz festgenommen wurde. Als klar wird, dass er für anderthalb Jahre ins Gefängnis muss, beginnt der Film gewissermaßen von vorn, denn in dieser Extremsituation müssen sich die Figuren neu verorten.

Das filmische Bild des schwulen urbanen Mannes erfährt in letzter Zeit eine radikale Neuinterpretation. Der Filmpublizist Ben Walters schrieb bereits von einem „New Wave Gay Cinema“, und neben Filmen wie „Weekend“ von Andrew Haigh und „Keep The Lights On“ von Ira Sachs könnte man Eytan Fox’ „Yossi“ und eben „Jenseits der Mauern“ als Beispiele einer neuen Sensibilität im Umgang mit schwulen Erfahrungen anführen.

Beziehungsstatus unsicher

Im Mittelpunkt steht dabei oft der unsichere Status von Beziehungen. Es geht zudem um Körperbilder, Drogenerfahrungen und einen unverkrampften Umgang in der Darstellung von schwulem Sex wie in Travis Mathews’ „I Want Your Love“. Homosexualität ist in allen Filmen eine Selbstverständlichkeit, lange genug war sie das Hauptproblem.

So spielt Ilir nach dem ersten Sex übermütig mit dem benutzten Kondom, während Paulo sich unter der Dusche beklagt, dass er sich jetzt erst mal drei Tage erholen müsse. In solchen Szenen steckt eine erfrischende Sinnlichkeit, weil sie einen Alltag erfahrbar machen, anstatt die polierten Stereotype gängiger Nischenfilme fortzuschreiben.

Nicht zuletzt den beiden großartigen Schauspielern Guillaume Gouix (Ilir) und Matila Malliarakis (Paulo) ist es hier zu verdanken, dass jeder Moment zwischen den Protagonisten spürbar glaubwürdig bleibt und die hochemotionale Geschichte nie in Sentimentalität oder Kitsch abrutscht. Am Ende soll ein erzwungener Absturz der beiden die Wunden heilen, doch das Leben ist schneller – und der Alltag manchmal unbarmherzig.

TOBY ASHRAF

■ „Jenseits der Mauern“. Regie: David Lambert. Mit Guillaume Gouix, Matila Malliarakis. Belgien/ Kanada/Frankreich 2012, 98 Min.