: Vom Versuch, immer in Bewegung zu bleiben
In Hongkong demonstrieren tausende gegen die WTO, in Berlin fallen die Proteste kaum auf. „Es ist nicht die Zeit der großen Mobilisierungen“, sagt eine Aktivistin von Attac Berlin. Wo steht die Organisation, deren Name als Synonym für den Widerstand gegen die Globalisierung gilt? Ein Besuch
VON KORBINIAN FRENZEL
Bewegung ist für Lony Ackermann mehr als nur ein Wort. Die 66-Jährige hat sich wirklich auf den Weg gemacht – quer durch Deutschland und dann einen ganzen Monat durch Frankreich. 3.500 Kilometer in ihrem Renault, los an der Europabrücke über den Rhein nach Straßburg, dann Bordeaux und schließlich Paris. „Das war eine Euphorie, eine Siegesstimmung“, erinnert sie sich. Der Tag des Triumphes, von dem sie spricht, war der 29. Mai, als an der Place de la Bastille das Nein der Franzosen zur Europäischen Verfassung gefeiert wurde. Mittendrin die Berlinerin, Attac-Mitglied und dort engagiert in der AG „EU-Verfassung“. „Ich wollte da mitkämpfen, wo die Bürger nach ihrer Meinung gefragt wurden“, sagt sie. Und so zählte sie für einige Wochen zu den „internationalen Brigaden“, die das globalisierungskritische Netzwerk Attac in seinem Mutterland Frankreich vor dem EU-Referendum unterstützte.
Der Alltag der Mitglieder von Attac sieht freilich anders aus: Es ist Dienstag, der dritte im Monat, seit fünf Jahren der Jour fixe für die großen Treffen von Attac in Berlin. Vom Pariser Mai kann man an diesem kalten Novembertag nur träumen. Euphorie und Siegesgefühl sind fehl am Platze im schlicht eingerichteten Versammlungsraum im „Haus der Demokratie“ in Prenzlauer Berg. Denn zu feiern gibt es wenig. Es geht um die schwierige Lage der Beschäftigten am Universitätsklinikum Charité. Jemand von Ver.di spricht und strapaziert die Geduld der Zuhörer mit allerlei Abkürzungen aus der Gewerkschaftswelt. Später werden zwei ältere Damen die Folgen der Privatisierung ihrer Wohnungen in Zehlendorf schildern.
Knapp 40 Leute sind an diesem Abend zum Plenum, dem monatlichen Treffen von Attac Berlin, gekommen. Zu Spitzenzeiten waren es mehr als 150 Leute, erzählen die, die schon länger dabei sind. Das war nach Genua, als die globalisierungskritische Bewegung im Widerstand gegen den dortigen G-8-Gipfel 2001 ihren ersten Höhepunkt fand – und ihren ersten Toten. Mehr als vier Jahre haben die Emotionen abgekühlt. Die Aufmerksamkeit für das Projekt, das nach eigener Ansage eine andere Welt möglich machen will, hat nachgelassen.
„Es ist gerade nicht die Zeit der großen Mobilisierungen“, räumt Lena Bröckl ein. Darüber können auch die vielen roten Attac-Fahnen mit dem Prozentzeichen nicht hinwegtäuschen, die mittlerweile fest ins Bild von Berliner Demonstrationen gehören. Die 43-Jährige, die seit Gründung von Attac in der Hauptstadt in der Vorbereitungsgruppe, einer Art Vorstand, sitzt, ist darüber nicht beunruhigt. Sie spricht von Stabilisierung und von den Stärken Attacs, die auch jenseits der symbolischen Aktionen lägen. Aufklären, informieren, Hintergründe erklären, das sei die Aufgabe. Und Fragen stellen: „Warum werden so wichtige Leistungen wie die Wasserversorgung in Berlin aus der öffentlichen Hand weggegeben?“ Attac, sagt Bröckl, habe seinen Anteil daran, dass das Heilsversprechen „Privatisierung“ immer mehr in Frage gestellt werde. An diesem Dienstag im November scheint Zuhören das Motto zu sein. Über die bis zu 40 Prozent höheren Kaltmieten, die die Damen aus Zehlendorf zahlen müssen, und über Personalabbau in Berliner Krankenhäusern. Lony Ackermann ist auch hier noch lange auf den Beinen, während die anderen im Saal schon seit einer Stunde auf ihren Stühlen den Blick gen Podium richten. Sie legt Infomaterial am Eingang aus und begrüßt professionell wie eine Verkäuferin Leute, die zum ersten Mal zu Attac kommen. Jedes Mal seien es 10 bis 15 neue Gesichter, sagt Lena Bröckl.
Doch viele sehe man nur einmal – und dann nie wieder. Bröckl selbst findet Attac „viel zu alt“: Viele der rund 60 regelmäßig Aktiven hätten schon in den 60er- und 70er-Jahren politisch gearbeitet. Es ist aber nicht so, dass gar keine jungen Leute mitmachen würden: „Wir haben eine sehr aktive Jugendgruppe“, freut sich Bröckl. Dort beschäftigt sich derzeit eine Hand voll junger Leute mit dem Durcharbeiten von Antonio Negris und Michael Hardts Buch „Empire“ – Theoriebildung in bester Tradition.
In der Praxis hat Attac seinen Platz in der Politik gefunden – „als Netzwerk, das Bewegung auf die Straße bringen muss“. So formuliert es Felix Tintelnot, der wie Bröckl auch im Bundeskoordinierungskreis der Organisation sitzt. Die Grüne Jugend, als Verband Mitglied bei Attac, hat ihn dorthin geschickt. Attac sei ein sehr breites Bündnis von linken Sozialdemokraten über Grüne bis zu Linksruck, erklärt der Berliner Student. „Attac muss zwangsläufig anders agieren als eine Partei.“
Ob die Linkspartei im Bundestag zum politischen Arm der Bewegung werden könnte? Der junge Grüne wünscht sich diese Rolle lieber für seine eigene Partei – und korrigiert sich gleich: „Attac bleibt nur stark, wenn das Bündnis überparteilich bleibt“, sagt er.
„Dort gut zusammenarbeiten, wo es sich ergänzt“ – so beschreibt Lena Bröckl die Aufgabe der Organisation, die seit fünf Jahren ihre politische Heimat ist. Bei der Dienstleistungsrichtlinie etwa könne man sehr gut mit der IG Bau und Ver.di kooperieren. „Die gemeinsame Praxis im konkreten Fall zählt. Differenzen in anderen Fragen stehen da zurück“, sagt sie. Bröckl, die seit zehn Jahren für SPD-Bundestagsabgeordnete arbeitet, sieht gerade darin den entscheidenden Vorteil gegenüber dem Engagement in den auf Geschlossenheit erpichten Parteien. Eine große Nähe zur Linkspartei befürchtet sie nicht. Dafür habe man ein zu „zwiespältiges Verhältnis“ zu der Partei, die im Senat sitzt. Das Verhältnis zwischen Linkspartei und Attac könne man nicht mit dem zwischen Grünen und der Anti-AKW-Bewegung vergleichen. „Die sind mit- und auseinander entstanden, Linke und Attac hingegen nebeneinander.“
Im weiß getünchten Saal im Haus der Demokratie fallen die Attacken auf den rot-roten Senat denn auch eher schwach aus – obwohl es den ganzen Abend um die Folgen der Politik von SPD und Linkspartei geht. Vielleicht liegt es daran, dass die, die es in die Politik zieht, ohnehin schon nicht mehr die Aktivisten bei Attac sind. Linksruck beispielsweise stecke seine Energie jetzt eher in die WASG, sagt Bröckl. Und jede Menge Attacis engagierten sich mittlerweile bei der Linkspartei, weiß Lony Ackermann.
Für sie, die 25 Jahre lang Mitglied der SPD war, ist das keine Option: „Ich kenne den Parteienkampf. Darauf habe ich keine Lust mehr.“ Lieber denkt sie daran, sich mal wieder in Bewegung zu setzen. Im Januar, wenn das Europaparlament über die Dienstleistungsrichtlinie entscheidet, will sie dabei sein, wenn Attac und Gewerkschaften nach Straßburg fahren. Sie will demonstrieren – auf der Europabrücke über den Rhein.
wirtschaft und umwelt SEITE 11