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Archiv-Artikel

„Der Staat existiert nicht, und die UN sind paralysiert“

HILFE Michael Kühn von der Welthungerhilfe über Katastrophenhilfe in Haiti. Ein Land, das „gerade auf dem Weg der Besserung“ war

Michael Kühn

■ 49 Jahre alt, arbeitet seit 2007 als Regionalkoordinator der Welthungerhilfe für Haiti. War bereits in El Salvador, Costa Rica, Honduras, Guatemala, Kolumbien, Venezuela und der Dominikanischen Republik im Einsatz.

INTERVIEW HANS-ULRICH DILLMANN

taz: Herr Kühn, wie haben Sie das Erdbeben erlebt?

Michael Kühn: Ich war auf dem Weg nach Hause. Ich hatte gerade meine Tochter abgeholt. Plötzlich begann sich alles um mich herum zu drehen. Das Fahrzeug schleuderte, die Bäume schwankten wie aus Gummi um mich herum. Ein surrealistisches Bild. Und erst als das alles vorbei war, habe ich realisiert, dass die Erde gebebt hatte.

Sind Mitarbeiter der Deutschen Welthungerhilfe von dem Erdbeben betroffen?

Meine Kollegin Regina Tauschek, eine Österreicherin, hat ihren gesamten Hausstand und alle persönlichen Gegenstände verloren. Sie wohnte in einem Appartment im Hotel Montana, das bei der Erschütterung völlig zerstört wurde. Da steht kein Stein mehr auf dem anderen.

Wie sieht die Umgebung aus, in der Sie Ihr Büro haben?

Mauern sind zusammengebrochen, Hauswände eingestürzt, auf den Straßen liegen Steinbrocken und Bäume, vor allem die kleineren Häusern haben der Erschütterung nicht standgehalten. Autos sind von Schuttmassen begraben worden. Hier oben hat es scheinbar nicht so viele Tote gegeben, aber ich habe in der Stadt vielleicht 80 Leichen gezählt. Die meisten Toten dürften unter den Trümmern zu finden sein.

Haben Sie sich in der Umgebung umgesehen?

Einige Armenviertel, oberhalb von Port-au-Prince, die sich in den letzten Jahren an den Hängen der Berge gebildet haben, sind von dem Beben in die Tiefe gerissen worden. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie viele Tote es dort zu beklagen gibt.

Wie reagieren denn die Menschen?

Die Menschen warten und warten, aber es passiert noch nichts. Das menschliche Elend ist unvorstellbar. Viele Krankenhäuser sind zerstört, es fehlen Medikamente, eigentlich fehlt es an allem, die ärztliche Versorgung ist zusammengebrochen. Der Staat existiert nicht, und die UN-Hilfsorganisation haben Schwierigkeiten zu reagieren. Ihr Chef ist tot. Sie sind paralysiert, dabei müssten sie jetzt die Federführung bei der Hilfe übernehmen.

Was machen die deutschen Hilfsorganisationen, die vor Ort sind?

Wir leiden darunter, dass es keine Kommunikationsmöglichkeiten gibt, die Telefonleitungen funktionieren nicht. Die Strom- und Wasserversorgung ist völlig zusammengebrochen. Wir brauchen Wasser, Medikamente und dringend Lebensmittel. Wenn das nicht bald kommt, wird die Sache für die Bevölkerung noch schlimmer.

Was machen Sie denn jetzt konkret?

Wir werden medizinische Hilfe anbieten und dann sicher auch Nahrungsmittel verteilen, bevor die Wiederaufbauphase beginnt. Auch wir sind Opfer der Katastrophe. Unsere Mitarbeiter haben Angehörige verloren, ihre Häuser sind zum Teil eingestürzt. Eine gute Freundin von mir ist tot. Aber wir müssen handlungsfähig bleiben, und dazu brauchen wir eine funktionierende Kommunikation mit anderen Organisationen und Kraftstoff, um unsere Notstromaggregate am Laufen zu halten. Genau das fehlt allerdings im Moment. Aber das Schlimmste ist, dass Haiti eigentlich gerade auf dem Weg der Besserung war. Dem Land konnte nichts Schlimmeres passieren als diese Katastrophe, die vermutlich Tausende in den Tot gerissen hat und es um Jahre zurückwirft.