: Lasst sie dick und unsportlich sein!
Fit sollen Deutschlands Kinder sein, rank und schlank, und möglichst viel Sport treiben, um nicht später den Krankenkassen auf der Tasche zu liegen. Der Schulsport soll es richten
von Eiken Bruhn
Sie sind zu fett. Sie bewegen sich zu wenig. Sie sitzen viel zu viel vor dem Computer. Sie stopfen nur Süßkram in sich hinein. Sie sind deshalb auch geistig nicht so beweglich. Statt etwas für ihre Fitness zu tun, schwänzen sie auch noch den Sportunterricht. Und als Erwachsene sind sie dauerkrank. Das belegen Studien. Und es steht ja auch ständig in der Zeitung.
So würde Niedersachsens Kultusminister Bernd Busemann (CDU) es nie formulieren. Liest man aber die Erklärung zur umstrittenen „Fitness-Landkarte“ aus seinem Haus, dann drängt sich der Verdacht auf, dass dem einen oder anderen der Projektinitiatoren solche Gedanken nicht ganz fremd sind.
Erst- bis Zehntklässler sollen jedes Jahr auf ihre körperliche „Fitness“ getestet werden. Wie lange sie an einer Sprossenwand hängen können, ob sie mit einem Sandsäckchen ein Zielfeld treffen. Im Internet können sie dann ihr persönliches „Fitness-Profil“ abrufen, das ihnen zeigt, wie schlecht oder gut sie im Vergleich dastehen. Auf diese Weise soll „das aktuelle Thema“ – namens „die Folgen von Bewegungsmangel und Fehlernährung“ – „in das individuelle Bewusstsein gerückt werden“. Wohlgemerkt: Es geht um Sechs- bis Sechzehnjährige. Das Ziel: „Das Niedersächsische Kultusministerium will das Bewegungsverhalten und die körperliche Leistung der Kinder und Jugendlichen im Land Niedersachsen nachhaltig verbessern.“ Wie das geschehen soll, bleibt einigermaßen nebulös, weswegen das Vorhaben bei SportwissenschaftlerInnen gleich reihenweise durchfiel. Irgendwie soll aber der Sport-Unterricht Abhilfe schaffen.
Ausgerechnet der Sportunterricht. Jeder, der mal vor der lachenden Klasse wie ein nasser Sack am Barren gehangen hat oder beim Völkerball als letzte in die Mannschaft gewählt wurde, weiß, dass Sportunterricht vor allem dazu geeignet ist, einem die eigenen Defizite sehr plastisch vor Augen zu führen. Um es vorwegzunehmen: Dies ist kein Plädoyer für die Abschaffung des Sportunterrichts. Aber es kann nicht angehen, ihm die Verantwortung dafür zu übertragen, dass Kinder bitteschön alle hübsch rank und schlank sind, und möglichst ohne Unfälle und Krankheiten durchs Leben gehen. Dafür gibt es Gründe:
1. Ob die Kinder wirklich an Bewegungsmangel leiden, zunehmend übergewichtig und motorisch ungeschickt sind – darüber streiten die Experten. Problematisch seien auch die Prämissen, unter denen die Debatte geführt wird, wie der Bremer Sportwissenschaftler Lutz Müller kritisiert. Veränderungen würden als defizitär wahrgenommen, sagt Müller, der in Bremen eine sportorientierte Grundschule wissenschaftlich begleitet. Eins der Ergebnisse: Kinder funktionieren nicht auf Knopfdruck nach dem Motto „Mehr Sport = bessere Testergebnisse“. Sein Hamburger Kollege Jürgen Kretschmer fordert, „die Gegenwart der Kinder nicht an unseren Vergangenheitserinnerungen“ zu messen und zu bewerten.
2. Sowohl Übergewicht als auch eine „defizitäre motorische Entwicklung“ sind erstens eine Frage der Defintion und haben zweitens verschiedene Ursachen und sind daher nicht monokausal mit Sport zu bekämpfen. Manche Kinder werden auch als Erwachsene langsamer sein als andere oder mehr wiegen.
3. Es gibt keine Garantie, dass Sportunterricht dazu führt, dass jemand sein Leben lang sportlich aktiv bleibt. Wer in der Schule ein Sportcrack war, kann trotzdem als Couch Potato enden. Umgekehrt bleibt der Horror „Sportstunde“, den man als Jugendlicher erlebt hat, zwar ein Leben lang präsent, wie die Osnabrücker Sportwissenschaftlerin Ina Hunger herausgefunden hat. Gleichzeitig belegen ihre Studien, dass Menschen, die sich als „Sportschwache“ bezeichnen, in ihrer Freizeit durchaus sportlich aktiv sind.
4. Solange im Sport Noten gegeben werden, nimmt man in Kauf, dass Kinder dadurch demotiviert werden und das gewünschte Ziel konterkariert wird. Eine Schülerin, die wegen ihrer Körperfülle gehänselt wird – die in der Turn- oder Schwimmhalle viel offensichtlicher ist als im Klassenraum – wird vielleicht nach dem Unterricht erst recht in den Schokoriegel beißen.
5. Die Auffassung von Sportunterricht als Methode, Kranken- und Unfallkassen zu entlasten, begünstigt Fitnesswahn schon bei den ganz Kleinen. In Interviews mit Grundschulkindern stellte die Sportwissenschaftlerin Hunger fest, dass diese sich genauso Gedanken über eingebildete körperliche Makel machen wie Erwachsene. Essgestörte Kinder verursachen auch Kosten.
Wenn es wirklich darum gehen soll, denjenigen die Freude am Sport zu vermitteln, die es schwerer als andere haben, dann muss man zunächst den Unterricht von dem Ballast befreien, Gesundheitsvorsorge zu treffen. Außerdem muss man sich davon verabschieden, gleichzeitig Freude an der Bewegung vermitteln zu wollen und den Leistungsgedanken – über Notengebung – zu stärken. Auch Fördergruppen sind keine Lösung, da sie den Kindern den Stempel „unsportlich“ aufdrücken. Ina Hunger schlägt vor, Kindern die Möglichkeit zu geben, sich in verschiedene Bewegungsfelder aufzuteilen, anstatt alle zu Bewegungen zu zwingen, die ihnen aufgrund ihrer körperlichen Beschaffenheit fremd sind.
Sportlehrer und -lehrerinnen müssten darüber hinaus besonders sensibel sein, fordert Hunger. Sport ist kein Fach wie jedes andere. Im Unterschied zu den anderen „Sitzfächern“ müssen sich Kinder umziehen und ihren Körper exponieren. Anders als in den anderen Fächern ist eine schlechte Figur im Sportunterricht kein „schulisches Versagen“, sondern eins der ganzen Person, sagt Hunger. Doch ausgerechnet die Sportlehrer sind diejenigen, die sich kaum in ein unsportliches Kind hineinversetzen können, weil sie selbst begeisterte Sportler sind. „Einigen mag das Fingerspitzengefühl fehlen“, sagt die Hamburger Sportlehrerin Nicola Jörn, die auch in der Lehrerfortbildung arbeitet. Andererseits habe sich der Sportunterricht stark verändert. Sie selbst lässt beispielsweise keine Mannschaften wählen und baut immer wieder Reflektionsphasen in den Unterricht ein, um über Probleme zu sprechen, etwa wenn immer dieselben Kinder den Ball bekommen. Und je mehr Sportarten man anbiete, desto eher sei auch für jedes Kind etwas dabei, was ihm Freude macht.
Auch Hunger glaubt, dass Sportlehrer heutzutage seltener vom Schlag des Zirkeltrainings-Fetischisten sind, der schlechte Schüler vorturnen lässt, um zu zeigen, wie es falsch ist. Ihr Fazit aus den Untersuchungen zu Sportschwachen sollten sich die Anhänger der Fitness-Landkarte hinter die Ohren schreiben: „Nicht zuletzt gilt es, sich von der missionarischen Idee zu verabschieden, aus jedem Menschen einen guten und begeisterten Sportler zu machen.“