„Die Zweifel bestehen fort“

Rainer Hackmann ist nicht verrückt. Aber zur amtsärztlichen Untersuchung erscheint der Berufsschullehrer nicht – und wird am Ende gegen seinen Willen in den Ruhestand versetzt. Über die Eigendynamik von Mobbing

von HEIKE HAARHOFF

Sehr geehrter Herr Hackmann,

Da Sie sich einer psychiatrischen Zusatzbegutachtung im Rahmen einer amtsärztlichen Untersuchung nicht unterzogen haben, bestehen die Zweifel an Ihrer Dienstfähigkeit fort. Gemäß § 56 Abs. 5 Niedersächsisches Beamtengesetz versetze ich Sie daher in den Ruhestand.

Mit freundlichen Grüßen

Landesschulbehörde, Abteilung Osnabrück, 17. 03. 2005

Es ist rückblickend schwer zu sagen, wann und womit genau die Schikanen gegen den Studienrat Rainer Hackmann begonnen haben. Nicht einmal er selbst vermag sich exakt zu erinnern, wann ihm zum ersten Mal auffiel, dass seine Lehrerkollegen an der Berufsbildenden Schule (BBS) im niedersächsischen Melle bei Osnabrück ihn schnitten. Ihn von gemeinsamen Projekten ausschlossen. Ihm Informationen vorenthielten. Seine Anträge auf Haushaltsmittel in der Lehrerkonferenz niederstimmten. In den Pausen gegen ihn und seinen Unterricht – Metalltechnik und Sport – stichelten, aber jäh verstummten, sobald er dazustieß. Gerüchte verbreiteten, er habe die Schüler nicht im Griff, seine Vorbereitungen der Auszubildenden auf die Prüfungen vor der IHK ließen zu wünschen übrig, es gebe Beschwerden von Betrieben.

Volker Strubbe, ein ehemaliger Kollege an der BBS Melle, der sich wegen des Betriebsklimas an eine andere Schule hat versetzen lassen: „Rainer Hackmann sollte da rausgekegelt werden, ganz klar. Er hat versucht, den Unterricht moderner zu machen. Das kam an dieser Provinzschule nicht gut an. Ich weiß noch, wie ich an die BBS kam und bestimmte Kollegen auf mich zukamen und mir ungefragt erzählten, wie merkwürdig er sei. Das hat mich befremdet. Man plaudert nicht über Interna mit einem neuen Kollegen.“

Ein sonniger, klarer Tag am Bahnhof von Melle. Rainer Hackmann fällt auf inmitten der Ein- und Aussteigenden: ein grauhaariger Zweimetermann, Typ Ausdauersportler. Flink legt er die paar Schritte zum Bahnhofsvorplatz zurück, wirft sich auf den Fahrersitz seines Kleintransporters und klopft auf die Tankanzeige: „Speiseöl. Hab ich selbst umgerüstet.“ Er braust los, über schöne, von Bäumen gesäumte Landstraßen, er wechselt das Thema, er kommt auf die Schule zu sprechen, seine Miene wird düster, am Straßenrand taucht das Ortsschild der benachbarten Kleinstadt Bad Essen auf. Rainer Hackmann lebt hier mit seiner Frau und den vier Kindern, er knurrt etwas über Lehrer, die nichts Besseres zu tun haben, als Intrigen zu verbreiten, vor einem großzügig geschnittenen Einfamilienhaus am Rande des Naturschutzgebiets würgt er den Motor ab. Er ist erst 58 Jahre alt und schon seit März Rentner. Rentner wider Willen, er hat Wut im Bauch. Er sagt: „Leugnen, umdeuten, Leute reinlegen, das können sie gut an der BBS in Melle.“

Heinrich Buermann, Oberstudienrat an der BBS Melle: „Ich habe ihm gesagt, hau hier ab, lass dich versetzen, mach was, du gehst hier kaputt. Aber er konnte nicht davon ablassen, dass er nicht gerecht behandelt wurde.“

An der BBS Melle hat Rainer Hackmann, der gelernte Werkzeugmacher und Ingenieur, 1976 als Berufsschullehrer angefangen. Von hier wurde er im Frühjahr nach jahrelangem Mobbing, schwerer Krankheit, Herzrhythmusstörungen und Schlaganfall, wechselseitigen Beschuldigungen, Strafanzeigen und Verleumdungsklagen unter Kollegen sowie einem langwierigen Rechtsstreit mit der Bezirksregierung vom Schuldienst ausgeschlossen. Hierhin will er zurück, sei der Rechtsweg auch noch so lang. Rainer Hackmann will beweisen, dass er dienstfähig ist und zu Unrecht psychiatrisiert wurde – von seinen Kollegen, von der Schulleitung, von der Bezirksregierung Weser-Ems als zuständiger Schulbehörde, vom Amtsarzt, von den Gerichten.

Heinz Semper, Oberstudienrat aus Osnabrück und seit der Referendarzeit mit Rainer Hackmann befreundet: „Er hat allein gekämpft. Das war sein taktischer Fehler.“

Was klingt wie ein schwer glaubhaftes Komplott, ist die tragische Geschichte von einem Mann mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, dem am Arbeitsplatz zweifellos großes Unrecht widerfahren ist. Unrecht aufgrund von Missgunst, persönlicher Animosität und provozierendem Verhalten. Unrecht, das sich schwer beweisen lässt und in so vielen Betrieben zum Arbeitsalltag gehört. Aber im Gegensatz zu anderen hat Rainer Hackmann den zermürbenden Kleinkrieg unter Kollegen dokumentiert und sich gewehrt – einsam, verzweifelt, undiplomatisch, beharrlich, kompromisslos und unkooperativ, teils maßlos in seinen Reaktionen. Bis er vielen als das erschien, was er nachweislich nicht ist: verrückt.

Michael Pawils, Psychiater aus Bramsche, der Rainer Hackmann zwischen Juli und Oktober 2000 behandelt hat: „Sie wissen doch um meine ärztliche Schweigepflicht. Nur so viel: Die literarische Vorlage ist Michael Kohlhaas.“

Rainer Hackmann bittet in sein Arbeitszimmer, es liegt unterm Dach und muss einmal geräumig gewesen sein, jetzt ist es voll gestellt mit Akten, Zeitungsausschnitten und Büchern, die Titel tragen wie „Mobbing“, „Hexenwahn und Hexenprozesse“ oder „Konfliktmanagement“. Es wirkt wie der Versuch, sich dem eigenen Leid wissenschaftlich zu nähern, um es erträglicher zu machen. Seit der Zwangspensionierung, erzählt er, sei er täglich mehrere Stunden mit der Aufarbeitung seiner Geschichte und dem Kampf um seine Rehabilitierung beschäftigt: „Ich muss begreifen, was da passiert ist.“

Rainer Hackmann kommt mit 29 Jahren an die BBS Melle, ein pädagogischer Quereinsteiger, einer, dem im Leben nichts zugefallen ist. Die Realschule schafft er mit Ach und Krach. Er macht eine Lehre, er geht zum Bund, freundet sich mit einem Wehrpflichtigen an, der Angst hat, bei der Bundeswehr zu verblöden, und nach Feierabend wie besessen lernt. Eine Haltung, die Rainer Hackmann imponiert. Er schließt sich dem Soldaten an. Tagsüber robben sie durch den Schlamm, abends pauken sie Formeln, fragen sich gegenseitig ab, Mathematik, Physik, Chemie.

Rainer Hackmann schafft die Aufnahme an die Fachhochschule, er wird Ingenieur. Er, der sich bislang wenig zugetraut hat, gewinnt plötzlich Selbstvertrauen. Er jobbt an einer Hauptschule; Schüler mit Potenzial, aber ohne soziale Chancen, sie will er fördern, ihnen will er vermitteln, dass es sich lohnt, zu lernen fürs Leben. Seine Lehre, die Praxiserfahrung, die Fachhochschule – Rainer Hackmann wird trotz fehlenden Abiturs zum Lehramtsstudium zugelassen, Metalltechnik wird sein erstes Fach, Sport sein zweites, er ist selbst Sportler, er weiß, dass man die Menschen erreichen kann über den Sport.

Im Unterricht lässt er die Schüler Bumerangs bauen, das ist ungewöhnlich und hat eine Botschaft: Alles, was man tut, kommt irgendwann auf einen zurück. Die Meller Kollegen finden ihn seltsam, sie sind fast ausnahmslos im konservativen Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen (BLBS) organisiert, Hackmann aber tritt der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft bei.

Ende der 80er-Jahre wird der Ansatz vom „handlungsorientierten Lernen“ in Pädagogenkreisen modern, selbstständiges Denken und Handeln sollen gefördert werden, Rainer Hackmann ist Feuer und Flamme. Er korrespondiert mit Professoren zu Didaktik und Methodik, er ist auf dem neuesten Stand, er schreibt und publiziert eigene Beiträge. Er möchte das Thema auch in Melle breiter diskutieren, einmal äußert er Zweifel an der Notengebung eines Kollegen, ein anderes Mal wendet er sich an die Schulleitung, weil ein Lehrer die Schulwerkstatt für Privatarbeiten genutzt haben soll.

Er wirkt übereifrig. Er nervt. Er ist angezählt.

Rainer Hackmann fährt seinen Computer hoch. Gedächtnisprotokolle, Schriftwechsel, ärztliche Gutachten, Korrespondenz mit Anwälten, der Schulbehörde, der Staatsanwaltschaft, Auszüge aus seiner Personalakte, die er hat einsehen können, als es schon zu spät war. Alle Dokumente sind gescannt, mit Datum und tabellarischer Kurzzusammenfassung versehen. „Da gehört natürlich eine innere Stärke dazu“, sagt er, „ich wäre fast erstickt und ersoffen in diesem ganzen Kram.“

Der Kardiologe Klaus-Georg Schrecker aus Osnabrück am 28. 8. 2002 an Rainer Hackmanns Hausärzte: „Seit ca. 1997 hat sich aus dem paroxysmalen Vorhofflimmern ein ständiges Vorhofflimmern entwickelt. Auch wenn sich keine organische Herzerkrankung nachweisen ließ, kam es immer häufiger zu Tachyarrhythmien. Zugleich nahm der psychosoziale Stress am Arbeitsplatz zu, er sprach von Mobbing. Gut half ihm ein Sanatoriumsaufenthalt in Bayrisch Gmain. Am Ende der Maßnahme trat das Vorhofflimmern nicht mehr auf. Während der letzten Genesungstage leitete sein Arbeitgeber trotz festgestellter uneingeschränkter Dienstfähigkeit gegen ihn das Zwangspensionierungsverfahren ein. Diese Drucksituation manifestierte sich unmittelbar danach in einer eklatanten Pulserhöhung auf Werte bis auf 170/Min.“

Zu diesem Zeitpunkt ist die Situation an der Schule in Melle bereits verfahren; eine verträgliche Zusammenarbeit erscheint der Mehrheit der Kollegen und der Schulleitung unmöglich. Der Streit eskaliert, als Rainer Hackmann im August 1996 mit einer „Beschwerde über Mobbing durch den Schulleiter“ an die Bezirksregierung Weser-Ems den Konflikt an der Schule öffentlich macht. So etwas hat bis dahin in dem beschaulichen Melle noch kein Lehrer gewagt.

Der damalige Schulleiter Jürgen Kipsieker: „Wenn Sie mich fragen, war das eine typische Paranoia. Er fühlte sich verfolgt von allen. Ich habe ihm vor Jahren beim Hausbau geholfen, später hat er dann lange Schriftstücke gegen meine Person verfasst. Jedes Gespräch führte wieder zu neuen Konflikten.“

Es kommt zu Gesprächen zwischen allen Beteiligten und umfangreichem Schriftverkehr. Anstatt den Streit zu schlichten, werden die beiderseitigen Beschuldigungen monströser. Der Schulleiter fährt schweres Geschütz auf. Ende Januar 1997 teilt er der Bezirksregierung Weser-Ems mit, das Kollegium habe einen Anspruch auf Schutz vor Diffamierungen. Hauptsorge der Schüler und Betriebe sei es, dass durch mangelnde Disziplin, ungewöhnliche Methoden und eigenwillige Stoffauswahl im Unterricht von Rainer Hackmann eine ungenügende Vorbereitung auf die Abschlussprüfung stattfinde. Eine Wahrnehmung, die tatsächlich weder die Betriebe noch die Schüler geteilt haben, die aber ungeprüft und unwidersprochen Eingang in Rainer Hackmanns Personalakte findet und später als Beleg dafür dient, dass er den schulischen Anforderungen nicht mehr gewachsen sei.

Tobias Beutler, Autohaus Beutler, Bad Essen, ehemaliger Schüler von Rainer Hackmann: „Es gab sicher bessere Lehrer als ihn. Er kam immer vom Hundertsten ins Tausendste, aber ich würde nicht sagen, dass ich deswegen durch ihn Probleme gehabt hätte.“

Rainer Hackmann unterrichtete vor allem Auszubildende aus Kfz-Handwerksbetrieben. Eine taz-Befragung aller 18 Kfz-Handwerksbetriebe, die laut Internetseite der BBS Melle Auszubildende nach Melle schickten und schicken, ergibt: Bis auf einen beantworteten alle Betriebe die Anfrage gern. Nicht ein einziger von ihnen hat sich gegenüber der Schulleitung über den Lehrer Rainer Hackmann oder seinen Unterricht beschwert. Den meisten war nicht einmal sein Name geläufig. Ein Geschäftsführer erklärte, er habe sich einmal an die Schule gewandt, allerdings nur wegen häufigen Stundenausfalls. Diejenigen, die sich persönlich an Hackmann erinnerten, betonten, man habe ihn durchaus für eigenwillig halten können, Anlass zur Besorgnis oder Beschwerde aber habe er nie geboten.

Peter Schlattmann, Autohaus Schlattmann, Schrage: „Ich hatte keinen schlechten Eindruck von ihm, auch wenn unsere Interessen divergierten. Er hat mal eine Klassenreise organisiert, die die soziale Kompetenz der Azubis stärken sollte, ist ja gut und schön, aber da sollten wir dann zwei Arbeitstage opfern, na gut, haben wir dann letzten Endes auch gemacht. Wissen Sie, im Gespräch hat er seine Position immer sehr stark verteidigt, man kam da schlecht gegen an.“

Rainer Hackmann fährt mit der Maus über den Schreibtisch, die Erinnerung macht ihn nervös, er starrt auf den Bildschirm. „Wenn ich Sie nicht angucke, liegt das daran, dass ich mich konzentriere“, sagt er. Im Nachhinein ist es leicht, zu sagen, er hätte mehr Souveränität an den Tag legen sollen. Er hätte gleich damals die Betriebe anschreiben und so den Schulleiter widerlegen sollen. Rainer Hackmann seufzt. „Heute würde ich anders auftreten, nicht auf der Betroffenenebene, aber damals – ich hätte mich gar nicht so ausdrücken können.“

Wolfgang Wilmar, Prüfungsausschuss Werkzeugmechaniker IHK Emsland: „Seine Tätigkeit als Prüfer im Prüfungsausschuss war stets korrekt und von hohem Fachwissen geprägt.“

Damals wittert er hinter jeder Formulierung einen Angriff auf seine Persönlichkeit, hinter jeder Äußerung die Unterstellung einer Macke. Er erwidert die Vorwürfe schriftlich, kontert mit Gegenvorwürfen. Im Juli 1997 bittet der Schulleiter die Bezirksregierung Weser-Ems, Rainer Hackmann an eine andere Schule zu versetzen. Zehn von vierzehn Kollegen des Fachbereichs Metall-Elektrotechnik hätten ein Klima des Misstrauens beklagt. Rainer Hackmann seinerseits beschwert sich über den stellvertretenden Schulleiter und Koordinator, Friedhelm Bußmann, bei der Bezirksregierung: Der Koordinator habe bei der Verplanung von Unterrichtsräumen Fehler gemacht und sich persönlich unangemessen verhalten. Der Koordinator und der Schulleiter weisen die Vorwürfe zurück, die Bezirksregierung ermittelt, der Kleinkrieg weitet sich aus.

Wegen einer vermeintlichen Falschaussage während einer Dienstbesprechung, die dazu gedient habe, ihn sozial auszugrenzen, verklagt Rainer Hackmann einen Kollegen vor dem Amtsgericht Osnabrück. Daraufhin appellieren im Mai 2000 vierzehn Lehrer der BBS Melle an die Bezirksregierung, sie möge „uns davor schützen, dass in Zukunft jeder von uns von solchen unbegründeten Beschuldigungen und Anzeigen betroffen sein könnte“. Ähnlich äußert sich schließlich auch der Personalrat.

Friedhelm Bußmann, damals Koordinator an der BBS Melle: „Ich weiß jetzt gar nicht, ob da ein Schreiben von den Lehrern abgeschickt wurde. Haben Sie das denn? Können Sie daraus zitieren? Ah. Hm. Ja. Vom 12. Mai 2000, nicht wahr? Wissen Sie, ich frage mich jetzt so, warum rollt der das alles wieder auf, er kriegt doch jetzt seine Pension, da könnte er doch zufrieden sein.“

Im Juli 2000 setzt die Bezirksregierung Weser-Ems während eines Dienstgesprächs in Osnabrück mit dem Leitenden Regierungsdirektor, dem Leitenden Regierungsschuldirektor, dem Meller Schulleiter, Rainer Hackmann und dessen Vertrauensperson ein Ultimatum: Die Beteiligten sehen alle bisherigen Konflikte als erledigt an und verpflichten sich zum Verzicht auf Unterstellungen sowie zur unmittelbaren und vertrauensvollen Abarbeitung künftiger Konflikte. Im Gegenzug nimmt Rainer Hackmann die Zivilklage gegen seinen Kollegen zurück.

Von einer Versetzung an eine andere Schule und von einer amtsärztlichen Untersuchung zur Überprüfung der Dienstfähigkeit ist jetzt zwar zunächst keine Rede mehr. Aber die Drucksituation ist enorm. Das Klima an der Schule bleibt vergiftet. Und die angeblich erledigten Konflikte bleiben – was Rainer Hackmann damals nicht weiß – in seiner Personalakte dokumentiert. Zwei Jahre später, im Zwangspensionierungsverfahren, wird erneut auf sie Bezug genommen werden, zu seinen Lasten. Rainer Hackmann wird krank.

Nervenärztliche Bescheinigung des Psychiaters Michael Pawils, Bramsche, vom 28. 10. 2002: „Herr Rainer Hackmann befand sich vom 07.07. bis zum 02.10.2000 in hiesiger Behandlung. Seinerzeit bestand ein depressiv ausgeformter Verstimmungszustand, der persönlichkeits- und situationsabkünftig war, zeitweilig Arbeitsunfähigkeit auslöste.“

Rainer Hackmann, der einstige Marathonläufer, der Macher, der das Haus für die Familie vor Jahren selbst gebaut hat, gehört nicht zu den Menschen, die klein beigeben, die sich mit Situationen abfinden und entsprechende Konsequenzen zu ihrem Wohl ziehen. Kollegen, Freunde, Verwandte thematisieren erneut einen möglichen Schulwechsel. Für Rainer Hackmann käme ein solcher Schritt aber dem Eingeständnis seiner Ohnmacht gleich. Nicht er hat mit dem Mobbing angefangen! Nicht er ist im Unrecht! Nicht er wird weichen! Er verschließt sich den wohlwollenden Argumenten, er vergräbt sich in seine Akten, er leidet. Er riskiert sein Leben.

Der Kardiologe Klaus-Georg Schrecker aus Osnabrück: „Schließlich ereignete sich 12/2001 ein Schlaganfall. Nach Krankenhausaufenthalten und Reha- Maßnahmen normalisierte sich sein Puls. Neuer Stress ergab sich für ihn, nachdem ein Sachverständigengutachten vom 11.06.02 die uneingeschränkte Dienstfähigkeit festgestellt hatte. Aufgrund des im April zuvor erlassenen Zwangspensionierungsverfahrens wurde ihm am 29.07.02 der Dienstantritt verwehrt und wurde eine amtsärztl. Untersuchung angeordnet. Diese Eskalationen belasteten ihn erneut.“

An der Tür zu Rainer Hackmanns Arbeitszimmer klopft es zaghaft. Es ist seine Frau Eva Hackmann, 52 Jahre, sie hat Kirschkuchen gebacken, sie fragt, ob es nicht Zeit sei für eine Pause. Rainer Hackmann starrt auf seinen Bildschirm, sie schließt die Tür wieder leise, sie geht die Treppe hinunter. Eine halbe Stunde später steht er auf. „So, gehen wir mal Kaffee trinken, was?“ Sie sitzt unten auf der Terrasse, sie hat noch nicht angefangen, sie blickt auf das Naturschutzgebiet, das sich an die Grundstücksgrenze anschließt, idyllisch, friedlich, grün. Sie sagt: „Schade ist ja, dass mein Mann das alles nicht genießen kann.“ Er sucht ihren Blick: „Eva, bitte.“ Sie sieht an ihm vorbei. „Bis Ende der 80er-Jahre war alles in Ordnung. Danach ging er nur noch laufen, die Nachmittage, die Wochenenden, die Kinder hatten nichts mehr von ihrem Vater, wir haben vier Kinder, sie waren damals noch klein, sie fragten, wo ist der Papa, aber er war weg, er brauchte das wohl, den Sport, um den Stress loszuwerden, jetzt ist er jeden Tag in seinem Arbeitszimmer beschäftigt, jeden.“ Er versucht es noch einmal: „Eva … Was soll ich denn machen?“ Sie fährt fort: „Dann der Schlaganfall. Wäre das nicht vielleicht ein Zeichen gewesen, es sein zu lassen?“ Er isst die letzten Bissen seines Kuchens schnell: „Wollen wir oben weitermachen?“

Bezirksregierung Weser-Ems, Außenstelle Osnabrück, 5. 3. 2002: „Sehr geehrter Herr Hackmann, bei längeren Erkrankungen bin ich nach § 54 des Niedersächsischen Beamtengesetzes (NBG) gehalten, die Dienstfähigkeit einer Beamtin oder eines Beamten überprüfen zu lassen. Sie sind bedauerlicherweise bereits seit dem 08.12.2001 erkrankt. Ich bitte daher um Ihr Verständnis, wenn Sie in Kürze von mir gebeten werden, sich amtsärztlich untersuchen zu lassen.“

Der Brief erreicht ihn drei Monate nach seinem Schlaganfall. Drei Monate nachdem er fast gestorben wäre. Aber Rainer Hackmann ist ein Stehaufmännchen. Er hat einen starken Willen, er überwindet Lähmung und Sprachstörung, er rappelt sich auf. Er hat die Rehaklinik im Ostseebad Damp verlassen, ist auf dem Weg der Besserung, die Prognosen der Ärzte sind sehr günstig. Er beginnt gerade, sich zu erholen, wieder Boden unter den Füßen zu spüren, da kommt die Post. Rainer Hackmann sagt: „Ich wusste sofort, jetzt wollen sie mich endgültig loswerden.“ Er weiß, dass amtsärztliche Untersuchungen auch einen psychiatrischen Teil beinhalten können. Er weiß, dass die einzige Chance, ihn zum Verlassen der BBS Melle zu zwingen, darin besteht, ihn förmlich zum psychischen Wrack stempeln zu lassen. Denn körperlich ist er ja gesund. Noch ist Zeit, sich einfach an eine andere Schule versetzen zu lassen, einen Neuanfang zu wagen – im Interesse seiner eigenen Gesundheit. Doch diese Genugtuung gönnt er seinen Kollegen nicht. Er will nicht aufgeben. „Born to win“ von Harry Belafonte, in der Interpretation von Jimmy Cliff, ist ein Lied, das er jetzt häufig hört. Aber er weiß auch, wie er wirkt, wenn er nervös ist. Er hat Angst.

Gutachterliche Stellungnahme des Psychiaters Kurt Büsching, Osnabrück, vom 18. 6. 2002, an die Bezirksregierung Weser-Ems: „Nach Verlauf und letzten Untersuchungsergebnissen ist der Untersuchte in seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit als vollschichtig dienstfähig anzusehen.“

Rainer Hackmann entscheidet sich, erneut zu kämpfen. Er nimmt sich einen Anwalt. Er widerspricht der Anordnung zur amtsärztlichen Untersuchung. Er bringt immer neue privatärztliche Gutachten bei, die seine volle Dienstfähigkeit bestätigen. Damit, so argumentiert er, entfalle die Voraussetzung für die Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung.

Abschlussbericht der Schüchtermann-Rehaklinik, Bad Rothenfelde, vom 18. 11. 2002: „Aus psychologischer Sicht besteht bei Herrn Hackmann keine personenbezogene, sozialmedizinisch relevante Einschränkung der Erwerbsfähigkeit.“

Die Schulbehörde und das Verwaltungsgericht Osnabrück, vor dem der Rechtsstreit schließlich ausgetragen wird, beeindrucken die Gutachten und Rainer Hackmanns Argumente nicht. Zweifel an der Dienstfähigkeit eines Beamten, so das Gericht in seinem Beschluss vom 19. September 2002, „bestehen schon dann, wenn bestimmte Gründe auf die Dienstunfähigkeit des Beamten gegeben sind“. Ferner entspreche es dem „Sinn und Zweck des § 54 Niedersächsisches Beamtengesetz, dass der Dienstherr diese privatärztlichen Bescheinigungen im Rahmen einer von ihm angeordneten Untersuchung überprüfen lässt und sich auf der Basis dieses amtsärztlichen Urteils eine fachlich begründete Meinung bildet“. Konkret: Wenn die Schulbehörde eine amtsärztliche Untersuchung für sinnvoll erachtet, dann muss sich der Beamte dieser unterziehen. Eine Rechtsinterpretation, der sich verschiedene Gerichte und Kommentatoren in der Vergangenheit angeschlossen haben. Für Rainer Hackmann kommt sie nicht infrage. Er liest das Gesetz anders.

Heidemarie Kralle, Rechtsberaterin bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Niedersachsen in Hannover: „Wenn so ein amtsärztliches Gutachten angeordnet wird, dann hat der Beamte eine Mitwirkungspflicht.“

Es muss um diesen Zeitpunkt herum gewesen sein, dass sich bei Rainer Hackmann der Eindruck verfestigt, die Welt habe sich gegen ihn verschworen. Als er sich nach den Sommerferien 2002 zum Dienst zurückmeldet und erfährt, ohne amtsärztliches Gutachten laufe gar nichts, treten die Herzrhythmusstörungen unmittelbar wieder auf. Er muss sich erneut krankmelden. Schließlich gibt er sich geschlagen. Am 4. November 2002 lässt er sich beim Landkreis Osnabrück, Fachdienst Gesundheit, von Dr. Frank Bazoche amtsärztlich untersuchen. Rainer Hackmanns Befürchtung bewahrheitet sich: Der Amtsarzt ordnet eine psychiatrische Zusatzuntersuchung am Niedersächsischen Landeskrankenhaus an.

Frank Bazoche, mittlerweile Amtsarzt in Oldenburg: „Ich kann und werde Ihnen keine Auskunft über derzeitige oder ehemalige Patienten geben. Nur ganz allgemein: Ich bin kein Facharzt für Psychiatrie. Wenn ich aber während der amtsärztlichen Untersuchung im Gespräch mit dem Patienten den Eindruck habe, dass es da eine Auffälligkeit gibt, dass da jemand in der Spannbreite nicht normal ist, dann kann ich so ein Zusatzgutachten anfordern. Der einfache Eindruck reicht dafür aus. Ich verwahre mich dagegen, jemand habe Druck auf mich ausgeübt.“

Rainer Hackmann schlägt alle gut gemeinten Ratschläge in den Wind. Er hat zu viel Angst. Er kann der psychiatrischen Untersuchung nicht gelassen entgegensehen. Er glaubt nicht, dass der amtsärztliche Psychiater ihm bestätigen wird, was seine Ärzte ihm schon zuvor bestätigt haben: dass da keine Persönlichkeitsstörung bei ihm vorliegt, die einer Rückkehr an die Schule im Weg stünde. Außerdem fühlt er sich im Recht. Warum soll er überhaupt zu diesem Psychiater gehen, wenn doch schon die Anordnung dieser Begutachtung in seinen Augen rechtswidrig war? Vehement bestreitet er die Zulässigkeit der Zusatzuntersuchung. Lässt Fristen verstreichen, erscheint zu Gerichts- und Anhörungsterminen nicht, sieht nicht ein, weshalb er Stellung nehmen soll in einem Verfahren, das seiner Meinung nach nie hätte initiiert werden dürfen. Er beschwert sich über den Amtsarzt bei dessen Dienstherrn, er überwirft sich mit seinem eigenen Anwalt, er verklagt den Schulleiter wegen Körperverletzung im Amt durch Mobbing, er erklärt den zuständigen Richter am Verwaltungsgericht für befangen, er stellt bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück Strafantrag gegen die Bezirksregierung Weser-Ems wegen Mobbings, bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück lässt er gegen verschiedene Sachbearbeiter der Bezirksregierung Weser- Ems, die an dem Zwangspensionierungsverfahren beteiligt sind, ein Ermittlungsverfahren wegen Verleumdung und Unterschlagung einleiten. Sämtliche Verfahren werden eingestellt, abgewiesen, gegen ihn entschieden. Die Verfahrenskosten, mehrere tausend Euro, gehen zu seinen Lasten. Er zahlt nicht. Er ruft die nächsthöheren Instanzen an. Er macht eine Eingabe an den Niedersächsischen Landtag. Er setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel.

Unterdessen tun die Kollegen an der BBS in Melle das Ihre, den Eindruck zu untermauern, Rainer Hackmann sei für die Berufsschule nunmehr wirklich untragbar. Wenn man die Unterstellungen, die Boshaftigkeiten in den Schriftwechseln, die sich in Rainer Hackmanns Personalakte finden, liest, kann einem schon mal der Eindruck kommen, so mancher Kollege habe Rainer Hackmanns Abgang von der Schule beschleunigen wollen. Im August 2002 beispielsweise behauptet der Schulleiter Jürgen Kipsieker in einem Schreiben betreffs der „Arbeitsunfähigkeit des StR Rainer Hackmann“ an die Bezirksregierung: „Die Kollegen des Metallbereichs sind nicht mehr bereit, weitere Mehrbelastungen auf sich zu nehmen. Firmen der Region sind äußerst unzufrieden und haben bereits Schüler nach Bersenbrück umgeschult (Firma Stavermann, Rulle, Landmaschinenmechaniker). Ich bin nicht weiter bereit, das Problem mit Herrn Hackmann auf dem Rücken der Schüler und der Kollegen auszutragen.“ Eine Behauptung, die nachweislich nicht der Wahrheit entspricht, sich aber bis heute unkorrigiert in den Akten wiederfindet.

Stefan Ludwig, Geschäftsführer der Firma Stavermann, Rulle: „Wir kannten Herrn Hackmann gar nicht. Wir haben uns auch nie bei der Schule beschwert. Richtig ist, dass ein Auszubildender die Schule gewechselt hat. Das war aber aus privaten Gründen, die nichts mit Herrn Hackmann zu tun hatten.“

Im Januar 2003 – der Streit um die Zulässigkeit einer psychiatrischen Zusatzuntersuchung dauert an – legt der Schulleiter nach: Hackmann sei „aus Sicht der Schulleitung den psychischen Belastungen des Unterrichts nicht mehr gewachsen“, schreibt er wiederum an die Bezirksregierung und schlägt vor, ihn stattdessen etwa mit der „Entwicklung und Umsetzung einer Konzeption für die Lehrer-Schüler-Bibliothek“ zu betrauen. Der Vorschlag kommt einer Degradierung gleich. Der Schulleiter aber meint, Hackmann würde dadurch „auch eine Stärkung seines Selbstwertgefühls erfahren“.

Niemand schreitet ein, niemand überprüft die Vorwürfe auf ihren Wahrheitsgehalt, niemand ergreift für Rainer Hackmann Partei. Niemand verhindert, dass da an einem Gesamteindruck gezimmert wird, der ihn als nicht zurechnungsfähig abstempelt.

„Glauben Sie das?“, ruft Rainer Hackmann und stützt den Kopf in die Hände. Es ist eher eine rhetorische Frage, er selbst weiß ja kaum noch, woran er noch glauben soll, an das Gute im Menschen jedenfalls nicht, an den Rechtsstaat erst recht nicht, an Wahlen beteiligt er sich schon lange nicht mehr. „Das vermittle ich auch meinen Kindern“, sagt er. Es klingt wie eine Drohung.

Bis heute ungeklärt ist, wie in Rainer Hackmanns Personalakte der Eintrag geriet, er habe sich „vom 20.11.2000 bis mindestens Juli 2003 in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung wegen eines depressiven Syndroms bei Herrn Dr. Zimmer, Delmenhorst“ befunden. Tatsächlich, bestätigt der Arzt gegenüber der taz, hat er Rainer Hackmann weder gekannt noch behandelt. Das Schreiben, das irrtümlich in Rainer Hackmanns Akte landete, habe sich auf einen anderen Patienten bezogen, der zufällig auch Berufsschullehrer sei.

Friedrich Michael Zimmer, Psychiater, Delmenhorst, Schreiben an Rainer Hackmann vom 4. 7. 2005 und vom 28. 6. 2005: „Ich kann nicht verstehen, wie das Schreiben in Ihre Akte gekommen ist. Beide fachpsychiatrischen Begutachtungen nennen nicht nur den vollen Namen meines Patienten, sondern auch Charakteristika, die nur mit ihm identifiziert werden können. Es ist nicht nachvollziehbar, dass es sich bei der Zuordnung dieses meines Briefes zu Ihrer Person lediglich um einen ‚Fehler‘ gehandelt haben soll.“

Die Bezirksregierung Weser-Ems, bei der die Personalakte geführt wurde, gibt, wie gesagt, im laufenden Verfahren keine Auskunft. Wer die Zuordnung zu verantworten hatte und ob sie vorsätzlich oder versehentlich erfolgte, interessiert heute ohnehin kaum – für die Rechtmäßigkeit der Zwangspensionierung jedenfalls, so das Verwaltungsgericht Osnabrück in seinem Urteil, sei dieses Detail unerheblich.

Im März 2005 wird Rainer Hackmann gegen seinen Willen in den Ruhestand versetzt. Nicht wegen nachgewiesener psychischer Krankheit. Sondern aus dem formalen Grund, dass er die amtsärztlich angeordnete psychiatrische Untersuchung verweigert hat.

Auf dem Weg zurück zum Bahnhof von Melle holt er ein DIN-A4-Blatt mit einer Grafik in Schwarz-Weiß hervor. Darauf zu sehen sind viele, scheinbar ebenso wahllos wie zufällig angeordnete eingekreiste Plus- und Minuszeichen sowie Fragezeichen. Er hat sie selbst gemacht am Computer. In der Legende heißt es, dass die Pluszeichen für Hinweise auf gesundes, normales und funktionsangemessenes Verhalten stehen, die Minuszeichen für krankes, unnormales und funktionsgestörtes Verhalten und die Fragezeichen für nicht eindeutig zuzuordnendes Verhalten. Alle Zeichen stehen allein im Raum, einzig die Minuszeichen sind mit Bleistiftstrichen verbunden, sie sehen aus wie Perlen an einer Kette. „Das ist die Art und Weise, wie sie versuchen, einen für geisteskrank zu erklären“, sagt Rainer Hackmann. „Sie beziehen nur die nachteiligen Äußerungen ein und lassen alles andere außer Acht.“

Landesschulbehörde, Abteilung Osnabrück, 17. 3. 2005: „Ich weise darauf hin, dass nach Wiederherstellung der vollen Dienstfähigkeit gem. § 59 NBG eine erneute Berufung in das Beamtenverhältnis möglich ist. Um zu klären, ob die Voraussetzungen für eine Wiederverwendung aus dem Ruhestand vorliegen, werden Sie zum 01.03.2006 eine erneute Vorladung zu einer amtsärztlichen Untersuchung erhalten.“

Nach Einschätzung der Rechtslage wird dies seine einzige Chance sein, vielleicht rehabilitiert zu werden. Es ist nicht auszuschließen, dass Rainer Hackmann diesen Termin unwahrgenommen verstreichen lassen wird.

HEIKE HAARHOFF, 36, ist taz-Reporterin