Mechanisch, laut und gewollt blutleer

NUR MEHR VERROHT Intellektuell distanziert bringt Sebastian Nübling in den Münchner Kammerspielen Tennessee Williams’ „Endstation Sehnsucht“ auf die Bühne

Nüblings „Endstation“ liegt in einer von Integrationsproblemen geplagten, frustrierten Gesellschaft

Wann also ist ein Mann ein Mann: wenn er sein T-Shirt im Brustbereich so gekonnt durchschwitzen kann wie Marlon Brando, bis sich der heißkalte Viehgeruch selbst via Leinwand noch überträgt? Wenig subtil ging Elia Kazans filmische Umsetzung von Tennessee Williams’ „A Streetcar Named Desire“ 1951 mit den Rollenklischees der Nachkriegszeit ins Gericht: mit Stella, jener einem prolligen Verlierer sexuell verfallenen Uptown-Prinzessin; mit Blanche, ihrer alternden und ewig verzweifelnden Schwester; mit Mitch, dem aufrechten Muttersöhnchen, das sich so gern in Blanche verlieben möchte. Und schließlich mit Stanley, diesem tobenden Kerl, der die Generation der Angry Young Men vorwegnehmen sollte.

Wenn Regisseur Sebastian Nübling „Endstation Sehnsucht“ nun in den Münchner Kammerspielen auf die Bühne bringt, löst er sich an entscheidenden Stellen von Vorlage und Filmbildern. Stanley Kowalski (Steven Scharf), ein polnischer Zuwanderer, zieht mit seiner grässlich blondierten, schwangeren Freundin Stella DuBois (Katja Bürkle) in eine neue Wohnung, die in den folgenden dreieinhalb Stunden zum Schauplatz von Liebesszenen und Hasstiraden werden wird. Dem Siebzigerjahre-Bühnenbild und dem Fünfzigerjahre-Teddyboy Stanley stellt Nübling die aristokratische Blanche DuBois entgegen. Mit ihrem Elternhaus „Belle Rêve“ (dt.: Schöner Traum), für das Stellas Schwester Blanche so „gekämpft und geblutet“ hatte, hat sie auch allen Halt verloren, hält ihren eigenen Wertvorstellungen unter den veränderten Außenbedingungen nicht mehr stand und wird zur Trinkerin. Stella genießt unterdessen Stanleys Demütigungen wie ein willkommenes Untergrundabenteuer.

Nüblings „Endstation“ liegt in einer von Integrationsproblemen geplagten, emotional entzauberten und daher dauerfrustrierten Gesellschaft. Temperamentvoll aufgerissene Jersey-Shirts ersetzt er durch Frottee, Ballonseide und Strass, Schweißflecke durch einen symmetrischen Abdruck auf Stanleys Hemd, der eher einem Rohrschachtest ähnelt und sich als Tätowierung auch in Stellas Nacken und auf den Blousons der gemeinsamen Freunde wiederfindet wie das Identifikationssymbol einer Straßengang. Stella erscheint bald nicht mehr halb arrogant, halb hörig, sondern überraschend vernünftig und widerständig. Und Nüblings Blanche ist nicht zerbrechlich, sondern längst zerbrochen, und nervt in der ständigen Überbetonung ihrer Schwäche, gegen die nur heiße Bäder, Seidenhemdchen, dichte Tüll-Tutus, gelegentliches Kotzen und Selbstmitleid zu helfen scheinen: „Das bisschen Aufrichtigkeit, das es gibt in der Welt, zeigt sich doch bei Menschen, die Leid erfahren haben“, stellt sie mit viel „Huch“ und „Hach“ fest, oder: „Liebenswürdigkeit ist das, was ich jetzt brauche.“ Im Gegenzug nimmt Nübling seinen Protagonisten jede wütende Erotik. Besonders deutlich wird dies, wenn Stanley nach seiner Stella brüllt, die er zuvor zusammengeschlagen hat: im Film verzweifelt und eigensinnig wie ein Kind, auf der Bühne bloß noch mechanisch, laut und gewollt blutleer. Wo in der Nachkriegszeit noch blinde Wut sein sollte, ist nur mehr Verrohung übrig. Ein bisschen Gestöhne, ein wenig nackte Brust und Unterm-Rock-Gefummel muss reichen, weil’s halt auch irgendwie zum Urthema „Mann vs. Frau“ dazugehört, und Versöhnungssex ist selbstverständlich auch hier am schönsten. So schlägt Sebastian Nübling – und beinahe noch mehr: eine alles überstrahlende Wiebke Puls in der Rolle der Blanche DuBois – eine distanzierte, fast schon verkopfte und ebendeshalb so brutale Bresche durch die Intimität der Figuren, was den Zuschauer eher intellektuell fordert, als an eigene Leidenschaften zu erinnern. Nüblings Personen sind nicht süchtig nach dem Sehnen, sondern nach der Suche, und so lösen sie in der letzten Szene alle verbleibenden inneren Konflikte noch weit konsequenter als in der Vorlage angelegt. Blanche kommt ins Irrenhaus, doch wo in Buch und Film das Trauern um die verlorene alternative Realität nun erst so richtig beginnen kann, ist bei Nübling die Suche unwiederbringlich vorbei: Endstation Kopfmensch.

HANNAH SCHMELLER