SILKE MERTINS ÜBER EINE MÖGLICHE DRITTE INTIFADA IN PALÄSTINA
: Abbas in der Falle

Der Palästinenserpräsident muss fürchten, dass sich eine neue Intifada auch gegen ihn richtet

Ein Journalist wird zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil auf seiner Facebookseite eine Fotomontage zu sehen ist, die sich über den Präsidenten lustig macht. In welchem Land sind wir? Syrien? Iran? Nordkorea? Alles falsch. Die Rede ist vom Westjordanland, wo, finanziert und überwacht vom Westen, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas die Fäden in der Hand hält. Gütigerweise hat Abbas den wegen Beleidigung verurteilten Straftäter kurz nach seiner gescheiterten Berufung Ende März begnadigt. Doch die Botschaft bleibt: Kritik an der Regierung ist unerwünscht, die am Präsidenten gar Majestätsbeleidigung.

Das Ausmaß an Korruption, Veruntreuung, Misswirtschaft und Menschenrechtsverletzungen im Westjordanland ist enorm angewachsen. Und mit ihr die Unzufriedenheit der Bürger. Die Wut und die Ohnmachtsgefühle gegenüber der Autonomiebehörde sind kaum geringer als die gegenüber der israelischen Besatzungsmacht. Bricht ein neuer Aufstand, eine dritte Intifada, aus, so kann Abbas nicht sicher sein, ob er sich tatsächlich gegen Israel richtet – oder gegen ihn.

Nur von diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum Abbas den Tod eines krebskranken Häftlings in einem israelischen Gefängnis jüngst zu verbalen Attacken gegen Israel nutzte. Der Palästinenserpräsident will zwar keine dritte Intifada, aber er hat ein Interesse daran, die öffentliche Wut auf Israel zu lenken. So bekommt er sie nicht selbst ab.

Mahmud Abbas hat von seinem Vorgänger, dem Gründer der palästinensischen Nationalbewegung Jassir Arafat, eines gelernt: Wenn es ununterdrückbar unruhig wird beim Fußvolk, dann hilft nur noch die Flucht nach vorn. Man muss sich an die Spitze der Bewegung setzen. So hat Arafat es schon vor 13 Jahren gemacht, als die letzte Intifada ausbrach.

Doch so sehr ein Aufstand den Gegner unter Druck setzt, es bleibt doch äußerst riskant. Das Feuer anzuheizen ist einfacher als es wieder auszutreten. Sind erst einmal wieder bewaffnete Gruppen und Milizen entstanden, ist es sehr schwierig, sie wieder unter Kontrolle zu bringen. Nach dem letzten Aufstand haben die palästinensischen Sicherheitskräfte Jahre gebraucht, um sich wieder Autorität zu verschaffen. Für die Hamas, die sich im Westjordanland nur noch auf Zehenspitzen bewegt, wäre eine neue Intifada dagegen die ideale Rechtfertigung, sich wieder zu bewaffnen und in Erscheinung zu treten.

Der Palästinenserpräsident sitzt schon jetzt in der Falle. Gegen einen Aufstand – oder die Wutwelle, die einer werden könnte – kann er sich nicht stellen. Für ihn kann er auch nicht sein. Unruhen gefährden die Machtposition der Fatah. Abbas Problem ist, dass er nichts zu bieten hat. Die Palästinenser sind nach wie vor in Hamastan und Fatahland gespalten. Ein Friedensprozess existiert nicht mehr.

Selbst über die Vermittlungsmission von US-Außenminister John Kerry an diesem Wochenende kann die palästinensische Führung in Ramallah sich kaum freuen. Washington verlangt von Abbas, ohne Vorbedingungen mit den Israelis zu verhandeln. Er soll seine Forderung, dass die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zuerst einen Siedlungsbaustopp verhängt, aufgeben. Es war allerdings Barack Obama höchstselbst, der Abbas in diese Sackgasse geführt hat. Die Palästinenser haben viele Jahre mit den Israelis verhandelt, und zwar ohne Baustopp. Doch als Obama zu Beginn seiner Amtszeit die jüdischen Siedlungen im Westjordanland als illegal brandmarkte, konnte Abbas dahinter nicht zurückstehen. Ein israelischer Kommentator drückte es treffend aus: Obama hat Abbas auf den Baum gelockt und ihm nun die Leiter weggezogen.

Es hängt nun an Kerrys diplomatischem Geschick, Abbas ohne allzu großen Gesichtsverlust vom Baum zu holen. Dazu muss der Palästinenser etwas vorweisen, was nur die Israelis ihm bieten können: die Freilassung von Gefangenen beispielsweise oder ein zumindest vorübergehender Baustopp. Allerdings sollte sich niemand Illusionen machen: Ein bisschen Reden zwischen Abbas und der Friedensprozessbeauftragten Zipi Livni wird einen Aufstand, falls er denn kommt, nicht aufhalten können. Die Palästinenser wollen und brauchen eine ernsthafte Perspektive. Und sie wollen und brauchen eine echte demokratische Regierung.

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