: Keine Macht den Erben
Pop kann man nicht unter Denkmalschutz stellen: Wolfgang Seidel, Schlagzeuger und Herausgeber eines Buchesüber die „Scherben“, wehrt sich gegen linke Romantisierung und die Vereinnahmung Rio Reisers von allen Seiten
Mit den Ton Steine Scherben und deren kampfrufartigen Songtiteln wie „Keine Macht für niemand“ verbindet man eine Zeit, in der Linke sich noch mit Kuba solidarisierten und Birkies, Palitücher und lange Haare trugen. Die Siebzigerjahre, denen diese Berliner Band entstammt, werden heute gerne von einem Rest-Alternativmilieu verklärt, vor allem weil damals das Weltbild der Linken – gegen Amerika, „das System“ und den Kapitalismus – noch ziemlich geordnet war.
Wolfgang Seidel, Gründungsmitglied und Schlagzeuger der Scherben, versucht in dem von ihm herausgegebenen Buch „Scherben“, vehement mit der Romantisierung dieser Zeit und seiner ehemaligen Band aufzuräumen. Sein Buch ist alles andere als eine der üblichen Band-Autobiografien: Es widmet sich gründlich der Demystifizierung. Und es will verstehen: Wie eine sich als extrem politisch und linksradikal verstehende Band heute von Befürwortern der Deutschquote im Radio zur ersten großen Deutschrockband zurechtgestutzt werden konnte. Und wie es passieren konnte, dass diese Band inzwischen sogar von ganz rechts, von der NPD, als Lieferant von Slogans wie „Allein machen sie dich ein“ vereinnahmt wird.
Die von Seidel zusammengetragenen Bestandsaufnahmen – es schreiben Alt-, Pop- und Junglinke wie Thorwald Proll, Ted Gaier, er selbst oder Thies Marsen – fallen meist ziemlich ernüchternd und was Seidel betrifft auch ziemlich selbstkritisch aus: Seidel prangert den unreflektierten Antiamerikanismus und die des Antisemitismus verdächtige Palästina-Solidarität der damaligen Linken an – und damit auch seine Band. Vor allem Rio Reiser, der längst zu einer Art deutschem Ché Morrisson geadelte Sänger der Band, der in den Achtzigern mit „König von Deutschland“ einen unsterblichen Hit landete, bekommt sein Fett weg: Hartwig Vens beschreibt Rio Reiser in seinem Essay als selbst erklärten „patriotischen Volkssänger“, aus dem mit der Zeit ein „deutscher Grübler mit Tendenz zur Jungen Freiheit geworden“ sei. Reiser habe sich, so Vens, vor allem während seiner Solokarriere als Protestsänger des deutschen Volkes verstanden, der Begriffe wie Heimat und Nation hemmungslos affirmierte. Daraus folgert Vens: „Wer sich mit Stolz deutscher Volkssänger nennen lässt, braucht sich über den Besuch von Joachim Witt und Landser nicht wundern.“
Es wird also gerne scharf geschossen in diesem Buch. Manchmal hat man dabei das Gefühl, Seidel und die anderen Autoren verrennen sich aufgrund ihrer Aversionen gegen alle, die heute von links bis rechts das Erbe der Scherben für sich reklamieren: Einerseits wird ja versucht darzulegen, dass es nur folgerichtig sei, wenn der Scherben-Klassiker „Allein machen sie dich ein“ heute auf NPD-Veranstaltungen vorgetragen wird (z. B. im Aufsatz von Ralf Fischer). Andererseits beschwert sich Seidel jedoch genau über diese Vereinnahmungen von allen Seiten. Hier macht er es sich selbst ein wenig zu schwer. Denn es ist nun mal einfach ein Wesensmerkmal populärer Kultur, permanent neu verhandelt zu werden: Man kann sie nicht einzäunen und zur Schutzzone erklären.
Wenn dann auch noch die von Seidel verachtete Claudia Roth als ehemalige Managerin der Scherben nach ihrer Wahl zur Grünen-Vorsitzenden ihre Antrittsrede mit dem Scherben-Zitat „Ich will ich sein, anders kann ich nicht sein“ beendet, mag das etwas von Leichenfledderei an sich haben. Doch vor allem belegt Roth dabei die auch von Seidel nicht kontrollierbare Wirkungsmacht von Popkultur. Die Scherben, so könnte man auch sagen, sind – auch wenn Hartwig Vens und Co. das anders sehen mögen – wohl weniger selbst schuld daran, was aus ihnen geworden ist.
Seidels Buch ist trotz der manchmal nervigen linken Phraseologie in einigen Aufsätzen dennoch ein wichtiger und längst überfälliger Beitrag gegen die unreflektierte Heroisierung eines bundesdeutschen Mythos. Es bietet eine meist interessante Erzählung über den Wandel der deutschen Linken samt ihrer zunehmenden Abgrenzungsschwierigkeiten nach rechts. Im Mülleimer linker Geschichte, dort wo bereits Stalin, Mao, Fidel Castro und Horst Mahler liegen, landen die Scherben jedoch nun hoffentlich nicht.
ANDREAS HARTMANN
Wolfgang Seidel (Hg.): „Scherben. Musik, Politik und Wirkung der Ton Steine Scherben“, Mainz 2005, 14,90 €. Am 10. 1. lesen Wolfgang Seidel und Ted Gaier im Festsaal Kreuzberg aus dem Buch