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Archiv-Artikel

Strukturelles Sterben

Lesen Eins: Kai Artinger hat mit „Novembermorde“ den zweiten Band seiner Kommissar-Lüder-Trilogie vorgelegt. Schauplatz ist die Trümmerlandschaft, in die Bremen nach dem Krieg verwandelt war

Auch wenn die Auflösung nicht völlig befriedigt – der Weg dorthin bleibt hoch spannend

Gibt es das Genre „Bildungskrimi“? Immerhin liegt jetzt schon der zweite Band der Kommissar-Lüder-Trilogie von Kai Artinger vor, die eine solche Zuschreibung allemal verdienen würde. Schließlich ist Artinger, hauptberuflich am Lübecker Günter-Grass-Haus tätig, nicht nur Kunsthistoriker, sondern auch sehr an der Geschichte der Polizei interessiert – an den Streitigkeiten um die Einführung einer weiblichen Kripo, an der Anpassung der Behörde im „Dritten Reich“ und an der anschließenden Entnazifizierung. Kurz: Man lernt wirklich viel, wenn man Gustav Lüders – stets hoch komplexen – Ermittlungen durch die Jahrzehnte folgt.

Ein Bremen-Krimi ist das Ganze natürlich ohnehin. Band Zwei, „Novembermorde“, spielt in der unmittelbaren Nachkriegszeit, bewegt sich also in der Bremer Trümmerwelt zwischen Buntmetall klauenden Jugendbanden und den Lagern der „Displaced Persons“: Baracken, in denen die gerade befreiten Zwangsarbeiter untergebracht waren. Insgesamt waren im Zweiten Weltkrieg 70.000 Menschen zum Arbeiten nach Bremen verschleppt worden, Tausende blieben nach Kriegsende noch monatelang in der Stadt. Artinger beschreibt das damals so genannte „Polen-Problem“: In der Bevölkerung breitete sich eine gefährlich xenophobe Stimmung aus, begünstigt durch etliche Überfälle, für die ehemalige Zwangsarbeiter verantwortlich gemacht wurden.

Konkret greift Artinger den Mord 1945 an zwei Niederblockländer Bauernfamilien auf, die in der Tat von Lagerbewohnern begangen wurden – lediglich der Anführer konnte nie gefasst werden. In diese Lücke stößt Artinger nun mit einer fiktiven Figur, einem getarnten ehemaligen SS-Mann, der wiederum mit der Bremer Beauftragen für die Rückführung geraubter Kulturgüter verbandelt ist.

Hier beweist sich Artingers Lust an vielfältigen Verwebungen: Alle Akteure sind irgendwie miteinander verbunden, also auch die entsprechenden gesellschaftlichen Felder. Bei „Tod in Worpswede“, dem ersten Band der Kommissar-Lüder-Reihe, waren es die Komplexe Sturm auf die Bremer Kunsthalle (deren Direktor Emil Waldmann sollte wegen „Vernachlässigung der Heimatkunst“ abgesetzt werden), die Bremer Zwangssterilisationen und die nationalsozialistische Orientierung Worpsweder Künstler. Auch bei „Novembermorde“ gilt: Die Zusammenführung aller Themen wirkt, unvermeidbar, etwas konstruiert. Wenn also die Auflösung des Falles nicht völlig befriedigt, bleibt der Weg dorthin trotzdem hoch spannend.

Gelegentlich ist allerdings etwas zu spürbar, dass Artinger in fast dokumentarischem Stil aus historischen Verhörprotokollen und dergleichen zitiert. Artingers großes Verdienst bleibt das intensive Quellenstudium und die narrative Aufbereitung relativ unbekannter Felder der Lokalgeschichte. So entsteht ein mittelgut gebauter Krimi, bei dem jedoch – im Gegensatz zu vielen seiner Artgenossen – erstaunlich viele strukturelle Einblicke hängen bleiben. Henning Bleyl

Kai Artinger: Bremen-Krimi „Novembermorde“, 238 Seiten.