„Gesellschaftliche Strukturen sind nicht stabil“

ENDLICHKEIT Von der Frühgeschichte bis in die Gegenwart: Die Kieler Universität erforscht, wie Menschen mit ihrer eigenen Sterblichkeit umgehen, aber auch mit der Endlichkeit von natürlichen Ressourcen oder politischen Systemen

■ 47, hat Politologie, Philosophie und Germanistik studiert. Sie lehrt Politikwissenschaft in Kiel und ist Sprecherin des Projektkollegs „Erfahrung und Umgang mit Endlichkeit“.

taz: Frau Stein, warum wollen Sie ausgerechnet die Endlichkeit erforschen?

Tine Stein: Weil es zwar viele philosophische und theologische Forschungen dazu gibt, aber nur wenig kultur- und sozialwissenschaftliche. Vor allem gibt es kaum vergleichende Forschung zum praktischen Umgang mit der Endlichkeit.

Was meinen Sie damit?

Haltungen und soziale Aktivitäten in Bezug auf drei Bereiche: die Endlichkeit des Menschen, der natürlichen Ressourcen sowie der sozialen Ordnungen. Jemand, der im 20. Jahrhundert sehr lange gelebt hat, hat in Deutschland vier verschiedene politische Systeme kennengelernt. Er hat also erfahren, dass gesellschaftliche Strukturen nicht dauerhaft stabil sind. Den Umgang mit solchen Erfahrungen wollen wir im Vergleich der Zeitalter und Kulturen erforschen.

Zum Beispiel Ewigkeitsformeln in Verfassungen.

Eine sehr ausgeprägte Ewigkeitsgarantie findet sich in den Artikeln 1 und 20 der deutschen Verfassung, die nicht verändert werden dürfen. Artikel 1 handelt von der Menschenwürde, Artikel 20 besagt, dass die Bundesrepublik demokratisch und rechtsstaatlich verfasst ist. Das ist eine soziale Praktik im Umgang mit Endlichkeit: Weil man sich nicht vorstellen will, dass das aktuelle Kollektiv ein Ende findet, schreibt man dessen Werte in eine unbegrenzte Zukunft hinein fest.

Unabhängig von ihrem Inhalt: Sind Ewigkeitsformeln nicht eine Bevormundung?

Das kann man natürlich diskutieren: ob Verfassungen Beschränkungen künftiger politischer Freiheit sind. Andererseits ist die Idee naiv, es gäbe eine Stunde null, in der eine Generation ganz neu ihre Spielregeln verhandelt. So etwas geschieht immer in einem historischen Kontext.

Das „Dritte Reich“ definierte sich aus dem Nichts als 1.000-jährig.

Ja. Das hängt wohl damit zusammen, dass die Nazis eine Säkularisierung der christlichen Heilsgeschichte versucht haben, wonach das „Dritte Reich“, das angebrochen ist, in einer verqueren Weise mit dem kommenden Reich Gottes parallelisiert wird.

Ihr Projekt reflektiert auch ökologische Nachhaltigkeit – dabei wird der Mensch die Ressourcen der Erde ohnehin irgendwann aufgebraucht haben.

„In the long run we are all dead“, das stimmt. Aber für die Zwischenzeit ist es für alle besser, unseren Zukunftsraum den nach uns Kommenden so zu hinterlassen, dass sie ein gutes Leben führen können. Natürlich hat der Planet Erde eine begrenzte Lebensdauer. Aber diese erdgeschichtliche Zeitdimension ist für Menschen derart unvorstellbar, dass mir dieser Gedanke nicht hilft, wenn ich mir überlege, wie ich meinen ökologischen Fußabdruck verringere.

Trotzdem scheint Ressourcenschonung vor allem unter Zwang zu funktionieren.

Zunächst einmal: Es ist interessant, dass heute viele Menschen ganz ohne Zwang einen anderen Umgang mit Ressourcen pflegen – weil sie eingesehen haben, dass ihr bisheriges Leben moralisch nicht verallgemeinerbar war.

Aber längst nicht alle.

Ja, und deshalb interessiert mich, wie so etwas zum allgemeinen Verhalten werden kann. Wie greift der Staat einen solchen sozialen Wandel auf – im Sinne einer Unterstützung für staatliche Politik, die in der Demokratie immer mehrheitsfähig sein muss?

Nämlich wie?

Bislang scheut sich die Politik oft, ökologisch nachhaltige Verhaltensänderungen durch Gesetze durchzusetzen.  INTERVIEW: PS

Am 16. April spricht der Philologe Thorsten Burkard über die Bewältigung des Todes in der römischen Literatur. Weitere Infos: www.collegiumphilosophicum.uni-kiel.de