: Völkermord? Die Opfer sind selber schuld
Eine ganze Reihe neuer Bücher im frankophonen Raum über den Völkermord in Ruanda 1994 versucht zu belegen, dass die Tutsi ihre Ermordung selbst organisiert haben. Geschichtsrevisionismus geht einher mit einer Apologie der französischen Politik
VON FRANÇOIS MISSER
Seit einigen Monaten erscheinen im französischen Sprachraum lauter Bücher über den Völkermord in Ruanda 1994, die an Geschichtsrevisionismus grenzen. Frankreich – lange Zeit Hauptverbündeter der ruandischen Hutu-Regierung, die 1994 den Genozid an den Tutsi organisierte – habe alles richtig gemacht, und Hauptverantwortlicher für den Völkermord sei die damalige Tutsi-Rebellenbewegung RPF (Ruandische Patriotische Front) unter Paul Kagame gewesen, die Ruanda heute regiert.
Zuerst kam „Rwanda: L’histoire secrète“ (Ruanda: die geheime Geschichte) von Abdul Ruzubiza, einem Deserteur der RPF-Armee und heute Flüchtling in Frankreich. Er macht die RPF für den Mordanschlag auf Ruandas damaligen Hutu-Präsident Juvénal Habyarimana am 6. April 1994 verantwortlich – der Auslöser für die systematischen Massaker an Oppositionellen und Tutsi durch bewaffnete Hutu in den Folgemonaten. Ruzibiza sagt, er habe als Mitglied eines „Network Commando“ der RPF an den Vorbereitungen für den Abschuss von Habyarimanas Präsidentenmaschine mitgewirkt. Paul Kagame habe die Macht in Ruanda an sich reißen wollen, auch um den Preis eines Genozids an den Tutsi. Und die RPF selbst habe selbst auch Völkermord verübt, nämlich an den Hutu.
Ruzibizas Erzählung enthält Behauptungen über einzelne Personen, denen andere Zeitzeugen bereits widersprochen haben und die die Glaubwürdigkeit seiner Thesen in Frage stellen. Und während die RPF zweifellos Massaker an Hutu begangen hat, fehlt für die Anschuldigung, sie habe einen Genozid verübt, jeglicher Beweis.
Ruzibizas Buch dient dennoch als Grundlage für „Noirs Fureurs, Blancs Menteurs“ (Schwarze Wut, weiße Lügner) des französischen Starjournalisten Pierre Péan, der in den letzten 30 Jahren Dutzende Enthüllungsbücher verfasst hat. Für Péan ist klar: Die RPF hat nicht nur durch den Mord an Habyarimana den Völkermord ausgelöst, sondern sogar die Hutu-Extremisten manipuliert, die die Massaker ausführten. Péan schreckt nicht vor solchen Sätzen zurück: „Die Kultur der Lüge und der Verstellung beherrscht bei den Tutsi alles andere.“
Obwohl er alle Tutsi für Lügner hält, übernimmt Péan sämtliche Thesen des Tutsi Ruzibiza. Er hat nichts davon vor Ort überprüft und ignoriert auch komplett sämtliche Fakten über wiederholte systematische Massaker an Tutsi in Ruanda 1959, 1963, 1973, 1990, 1991 und 1992, die Aufrufe der Hutu-Extremisten, die Vorbereitung des Genozids.
Das eigentliche Ziel Péans ist, Frankreich zu rehabilitieren, dessen Nähe zu Ruandas Hutu-Extremisten durch mehrere Enthüllungen um den 10. Jahrestag des Völkermordes 2004 herum bestätigt worden war. Péan schreibt, Frankreich habe allein Demokratie und Frieden gewollt. Die französische Militärintervention „Opération Turquoise“ in Ruanda in der Schlussphase des Genozids – die vor allem den geordneten Rückzug des Völkermordregimes in das benachbarte Zaire absicherte – stellt er als einzig humanitär motiviert da, anders als Ruzibiza, der schrieb: „Frankreich hat den Hutu-Extremisten geholfen, den Genozid an den Tutsi zu organisieren. […] Das Ziel der Operation Turquoise war, die Hutu-Extremisten zurück an die Macht zu bringen.“
Schon vor Péan veröffentlichte der französische Historiker Bernard Lugan das Buch „Mitterrand, l’armée française et le Rwanda“ (Mitterrand, die französische Armee und Ruanda), mit einem Vorwort von Premierminister Dominique de Villepin. Lugan verteidigt Frankreichs Ruandapolitik 1994 mit rechtsradikalen Argumenten. Tutsi und Hutu seien unterschiedliche „Rassen“, was man an der Kopfform der Tutsi erkenne, und Frankreichs Armee führte demzufolge in Ruanda einen Rassenkrieg. Mehrere Zeitzeugen – Honoré Ngbanda, einstiger Berater von Zaires Diktator Mobutu, und Jacques-Roger Booh-Booh, kamerunischer Chef der zu Beginn des Völkermordes abgezogenen UN-Blauhelmmission – haben weitere Bücher mit ähnlicher Tendenz veröffentlicht.
Ganz zufällig kommt diese Kampagne nicht. Während Péans Buch im November erschien, sammelte eine französische Ermittlerin in Ruanda zum ersten Mal Zeugenaussagen von Völkermordüberlebenden über die Rolle von französischem Militär 1994. Die Zeugen sagten aus, dass französische Soldaten im Rahmen der „Opération Turquoise“ Tutsi töteten oder ihren Mördern zuführten. In der Debatte über Péans Buch gingen diese Aussagen völlig unter.