: Mehr Jobs für Menschen mit Macke
PSYCHE Arbeit mache nicht seelisch krank, aber es brauche mehr leidensgerechte Arbeitsplätze, hieß es auf einer Tagung. Für zwanghafte Menschen sei Buchhaltung besser als Kundenbetreuung
MICHAEL LINDEN, PSYCHIATER
BERLIN taz | Der junge Mann tauchte eines Abends bei einer Selbsthilfegruppe in Berlin-Lichtenrade auf. Gelernter Verkäufer war er und erlitt neuerdings Panikattacken an der Kasse, wenn er eine Kundenschlange vor sich hatte. Sein Chef war ratlos, eigentlich hatte der Mann zum stellvertretenden Filialleiter aufsteigen sollen. Der Verkäufer verließ seinen Job und bemühte sich um eine Umschulung.
„An der Kasse im Supermarkt können Sie mit einer Angsterkrankung nicht mehr arbeiten“, sagt Michael Linden, Psychiater und Forscher an der Charité Berlin. Auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung zur „Medikalisierung sozialer Probleme“ stritten Psychiater und eine Gewerkschafterin am Donnerstag in Berlin über die Frage, wie man in der Arbeitswelt mit dem Boom an psychiatrischen Diagnosen umgehen soll.
Macht die Arbeit heute seelisch krank, wie die Gewerkschaften behaupten? Nein, sagte Linden. Aber trotzdem leiden viele Leute an einer seelischen Störung, und in der Wirtschaft brauche man mehr „Toleranzarbeitsplätze“. Linden verwies auf den Gesundheitssurvey mit Befragungsdaten des Robert-Koch-Instituts von 2012. Danach hat jeder vierte Bürger psychische Probleme, dieser Wert ist in den vergangenen Jahren nicht gestiegen. Psychische Störungen werden von den Ärzten heute aber häufiger diagnostiziert, meinte der Berliner Psychiater.
Linden warnte vor den Verallgemeinerungen in der Burn-out-Debatte: „Man muss aufhören zu sagen, das Leid kommt von der Arbeit.“ Ließen sich Betroffene früh verrenten, fielen sie anschließend oft erst recht in ein Loch. Stattdessen benötigten sie mehr „leidensgerechte Arbeitsplätze“. Ein Mensch mit sozialen Ängsten tue sich nun mal im Kundendienst schwer, ein Mitarbeiter mit einer narzisstischen Störung wäre im Einzelbüro besser aufgehoben. Ein zwanghafter Patient könnte möglicherweise am besten in der Buchhaltung eingesetzt werden, meinte der Psychiater.
Betriebe dürften nicht vorschnell für eine niedrige Krankheitsrate gelobt werden, wie es kürzlich Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) tat, sagte Linden. Wenige Arbeitsunfähigkeitstage im Betrieb könnten auch bedeuten, dass sich die Firma von ihren psychisch Angeknacktesten bereits getrennt habe, während etwa der oft belächelte hohe Krankenstand bei einer Behörde ein Zeichen dafür sei, dass diese ihre Labilen weiterbeschäftige.
Elke Hannack vom Bundesvorstand der Gewerkschaft Ver.di widersprach dem Berliner Psychiater. Die Zahlen aus Erhebungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes zeigten, dass die Beschäftigten heute mehr unter Stress litten. In den letzten Jahren habe es eine „massive Leistungsverdichtung“ an den Arbeitsplätzen gegeben, sagte Hannack.
Die Gewerkschaften fordern mehr „Gefährdungsbeurteilungen“ für die psychische Belastung in Betrieben. Bei diesen Beurteilungen werden die Beschäftigten unter anderem nach Stressbelastungen, Betriebsklima und Führungsstil im Unternehmen befragt. Arbeitsmediziner im Publikum gaben allerdings zu bedenken, dass solche Befragungen angesichts der aktuellen Burn-out-Debatte einen suggestiven Charakter entfalten könnten. Leicht bejahe man die Frage, ob der Stress zugenommen habe, weil fast alle dies gegenwärtig behaupteten.
Bei Mobbing und Burn-out entstünden die Belastungen oftmals nicht durch die Tätigkeit selbst, sondern durch einen krank machenden zwischenmenschlichen Umgang mit den Mitarbeitern, erklärte ein Arbeitsmediziner.
BARBARA DRIBBUSCH