„Horst Wessel ist immer noch Kultfigur“

BLUTZEUGE DER BEWEGUNG Der Historiker Daniel Siemens hat auf Grundlage bislang unberücksichtigter Quellen eine ausführliche Studie über „Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten“ geschrieben

■ ist Historiker im Arbeitsbereich „Geschichte moderner Gesellschaften“ der Universität Bielefeld und Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Foto: Siedler Verlag

taz: Herr Siemens, was ist bei dem Überfall auf Horst Wessel in seiner Berliner Wohnung 1930 wirklich geschehen?

Daniel Siemens: Seit dem Tag des Überfalls sind verschiedene Versionen aus verschiedensten politischen Richtungen im Umlauf. Ich hatte im Zuge meiner Recherchen das Glück, mir mehrere Bände der Ermittlungsakten aus dem Jahr 1930 anschauen zu können. Diese galten lange als verschollen, lagerten aber im NS-Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit. Aber auch nach dem Studium dieser Akten und anderer Dokumente bleibt die Geschichte ziemlich vertrackt. Mietschulden bei der Vermieterin spielten eine Rolle. Gesichert ist, dass die Vermieterin in kommunistischen Kreisen nach Hilfe suchte, um diesen renitenten Mieter loszuwerden. Als zweiter Aspekt scheint ein Streit im Zuhältermilieu infrage zu kommen. Albrecht Höhler, der Schütze, der auf Wessel geschossen hat, war Zuhälter und zugleich Mitglied in einer Sturmabteilung der KPD.

Sollte Wessel getötet werden, weil er ein Nazi war?

Viele Leute hatten sich auf den Weg zu Wessels Wohnung gemacht, um ihn mit einer, wie es damals hieß, „proletarischen Abreibung“ krankenhausreif zu prügeln. Dazu kam es jedoch nicht, denn als Wessel die Tür öffnete, schoss ihm besagter Höhler direkt ins Gesicht. Das Gericht hat im September 1930 dennoch festgestellt, dass die meisten Beteiligten einen Tötungsvorsatz gehabt hätten. Ich bin da skeptisch. Dass Wessel in dieser kommunistischen Hochburg als überzeugter Nazi nicht willkommen war, steht außer Frage. Das reicht aber nicht aus als Grund dafür, dass er einfach über den Haufen geschossen wurde. Ein Streit um seine Freundin, die Prostituierte Erna Jänichen, scheint ein weiterer Faktor gewesen zu sein. Ich versuche aufzudröseln, was gesicherte Fakten und bloße Vermutungen sind.

Unmittelbar vor dem Überfall auf Wessel wurde ein Jungkommunist bei einer Auseinandersetzung mit den Nazis angeschossen. Ist das ein mögliches Rachemotiv für die Rotfrontkämpfer gewesen?

Einige der später Verdächtigen gaben tatsächlich an, dass sie dieses Ereignis angestachelt habe. Das war zwar ein naheliegendes Erklärungsmuster, spielte aber vor Gericht später keine Rolle.

Wie beurteilen Sie die aktuellen Versuche von Neonazis, dem Wessel-Kult neues Leben einzuhauchen?

In der Neonaziszene ist Horst Wessel nach wie vor eine Kultfigur, deren zum Geburts- oder Todestag gedacht wird und die in Lieder einschlägiger Bands besungen wird. Da er schon 1930 an den Folgen des Attentats starb, war er an den Verbrechen der Nationalsozialisten im Dritten Reich nicht mehr beteiligt. Dies und sein früher Tod durch die Hand politischer Gegner ist auch heute noch propagandistisch wertvolles Material für jene, die die Frühphase des Nationalsozialismus heroisieren wollen. In letzter Zeit nehmen die Versuche zu, mit Wessels „politischem Soldatentum“, seinem Idealismus und seiner angeblichen „Opferbereitschaft“ junge Leute für rechtsextremes Gedankengut zu begeistern. Solche Entwicklungen sollten genau beobachtet werden – zumal dann, wenn neue Studien stimmen, nach denen in einigen Gegenden Deutschlands bis zu 17 Prozent der männlichen Jugendlichen als „eindeutig rechtsextrem“ bezeichnet werden können.

INTERVIEW: DAGO LANGHANS

Daniel Siemens: „Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten“. Siedler, München 2009, 352 Seiten, 19,95 Euro