Erlösung im Labor

ERNEUERUNG Seltsame Fantasien prägten den Umzug des Suhrkamp Verlags. Nun ist das Haus in Berlin angekommen. Wird jetzt alles gut?

Klar ist es interessant, in Berlin zu leben. Manchmal kommt einem das alles auch ganz toll hauptstädtisch vor. Manchmal aber auch klischeehaft, wie im Kino. Und wie das alles kapitalisiert und in solide Unternehmensumsätze umgewandelt werden soll, ist eh die Frage

VON DIRK KNIPPHALS

Chefinnen sind seltsam manchmal. Chefs auch. Das liegt zum Teil in ihrer Persönlichkeitsstruktur, zum Teil aber auch in der hierarchischen Struktur selbst begründet. In avancierten Managementhandbüchern ist nachzulesen, dass zu den zentralen Aufgaben höherer Hierarchieebenen eine Art Punchingballfunktion gehört: Die Angestellten auf der unteren Ebene können gemeinsam über den Chef schimpfen – und so alle Konflikte, die sie untereinander haben, nach oben ableiten und reibungsfrei nebeneinander her arbeiten.

Man ist versucht zu sagen: Ulla Berkéwicz, Chefin des Suhrkamp Verlags, erfüllt diese Funktion fast ein bisschen zu gut. Sie hat nicht nur alle Konflikte in ihrem Haus auf sich gezogen; und das waren nach den unvermeidlichen Kräfteverschiebungen nach dem Tod des Verlagspatriarchen Siegfried Unseld nicht wenige. Sie bietet auch eine so große Reibungsfläche für Ableitungen nach oben, dass man sich kaum vorstellen kann, dass überhaupt noch irgendwelche Konflikte für die Suhrkamp-Angestellten untereinander übrig bleiben. So gesehen, muss es im Hause Suhrkamp – selbst wenn man immer wieder anderes hört – ein prima Arbeiten geben.

Aufregung im Haus

Und noch ein anderes Anforderungsprofil hat Ulla Berkéwicz zuletzt womöglich übererfüllt: die Erzeugung von Bewegung und Unruhe innerhalb des eigenen Betriebs. Nach denselben Handbüchern sind Manager, die nicht entscheiden, mindestens ebenso problematisch wie Manager, die falsch entscheiden. Denn jedes Unternehmen ist ein komplexes System, das sich ständig auf neue Anforderungen einstellen muss. Dazu muss – da ist ein Verlag nicht anders als die Telekom – das Management permanent gegen die strukturkonservativen Neigungen der Angestellten anarbeiten. Dass sie das versäumt hätte, kann man Ulla Berkéwicz nun wirklich nicht nachsagen.

Als noch vor zehn Jahren – Christoph Buchwald versuchte sich damals gerade als Suhrkamp-Kronprinz – nur der Anschnitt der Buchstaben auf dem Cover des Verlagskatalogs geändert wurde, führte das zu heller Aufregung im Haus. Für manche war es schon zu viel der Veränderung. Nun ist das ganze Haus in der Frankfurter Lindenstraße geräumt. Das Archiv wurde nach Marbach verkauft. Viele altgediente Mitarbeiter haben den Verlag verlassen. Viele neue wurden eingestellt. Die meisten Mitarbeiter müssen sich neue Wohnungen suchen. Alle müssen, fürs Betriebsklima auch bedeutsam, im Prenzlauer Berg in Berlin neue Mittagstischmöglichkeiten auftun. Die Gefahr, dass es im Hause Suhrkamp zu ruhig zugehen könnte, hat Ulla Berkéwicz mit dem Umzugsbeschluss erst einmal auf Jahre abgewendet.

Ob sie die Bewegung tatsächlich in kreative Energie umwandeln kann, muss sie allerdings noch zeigen. Als die Bundesregierung an die Spree umzog, hat sich auch nicht gleich die ganze Politik geändert. Dass Suhrkamp inzwischen auch Comics herausgibt, deutet immerhin an, dass die Suche nach neuen Möglichkeiten die Bewahrung der Traditionen als neues Leitbild ablösen könnte. Fakt ist aber, dass der Umzug auch eine Art Kapitulation ist; eine Erneuerung mit den gewachsenen Frankfurter Strukturen hat Suhrkamp eben nicht hinbekommen. Fakt ist zudem, dass etwa ein Verlag wie Fischer die Erneuerung sehr viel überzeugender bewältigt hat – und mit einem geringeren Verschleiß an Mitarbeitern.

Am kommenden Dienstag wird nun die neue Adresse in der Berliner Pappelallee 78/79 feierlich eingeweiht. Die Hauptstadt in Gestalt ihres Oberbürgermeisters Klaus Wowereit wird sich in einem Grußwort freuen, über den Prestigegewinn für Berlin – und für das neue mittelständische Unternehmen; es ist ja keineswegs so, dass Berlin zu viele Arbeitsplätze aufzuweisen hätte. Die Autoren des Verlages werden anwesend sein, die Berliner Literaturkritikerschaft sowieso. Das alles wird sicherlich sehr nett werden. Und die Frage, ob der Umzug denn nun richtig oder falsch war, wird im Grunde keine Rolle mehr spielen. Nun muss man abwarten, was daraus erwächst.

Vielleicht kann man die Schlussbemerkung in dieser Sache einer Autorität wie Jürgen Habermas überlassen. In einem aktuellen Nachwort zu einem Text über das Suhrkamp’sche Wissenschaftsprogramm, nachzulesen in der Kulturzeitschrift Du, stellte der Philosoph grimmig fest: „‚Sich neu erfinden‘ ist der kitschigste Slogan des letzten Jahrzehnts.“ Das lässt sich als Spitze gegen die Chefin lesen. Aber er fand auch die Formel von einer „Traditionsfortsetzung als Erneuerung“ und erläuterte sie als „den fortgesetzten Akt einer schwierigen Balance zwischen Abbruch aus Trotz und Schwäche auf der einen, folgsamer, aber lähmender Nostalgie auf der anderen Seite“. Irgendwas zwischen Tanz auf dem Hochseil und Fahrt zwischen Skylla und Charybdis also. Das hält die Sache hübsch so offen, wie sie wohl auch tatsächlich ist. Na ja, wie bei allen anderen Institutionen in der flexibilisierten Moderne eben auch. Oder wie ein anderer Weiser gerne sagt: Schau’n mer mal.

Bevor man demnächst aber wirklich wieder zur Tagesordnung übergeht – das heißt zu den Büchern aus dem nächsten Programm –, verdienen noch unbedingt ein paar Fantasien festgehalten zu werden, die im Zuge der Umzugsaufregung die Runde machten. Was gab es da nicht zum Beispiel für einfühlsame Frankfurt-Idyllen zu lesen, die ambitionierteste in der SZ. Frankfurt erschien wie ein Arkadien, ein Hortus conclusus, in dem man ungestört seinen geistigen Beschäftigungen nachgehen konnte. Mit dem realen Frankfurt kriegte man diese vormoderne Sehnsucht nicht zusammen.

Im Hamsterrad der Zeit

Außerdem wusste man beim Lesen nicht recht. Ist es immer noch der Abschied von der alten Bundesrepublik oder schon etwas Neues? Eine leicht regressive Fantasie vom Ausstieg aus dem intellektuellen Hamsterrad unserer Zeit etwa? So wie manche Intellektuelle sich heimlich dann und wann nach einem Job als Leuchtturmwärter sehnen?

Dann in vielfältiger Erscheinungsform die rückwärtsgewandte Fantasie von einer geordneten Welt des Geistes, die bis zum Tod Siegfried Unselds geherrscht haben soll, mit der Suhrkampkultur als ihr Zentrum. Manchmal sollte einem geradezu glauben gemacht werden, dass „damals“ wirklich nur die intellektuelle Kompetenz und Gegenwartsaufschließungskraft zählte, und nicht auch schon Markt, Aufmerksamkeitsproduktion, Verkaufstalent.

Vor allem Umzugsgegner trugen solche Fantasien vor. Die Umzugsbefürworter, allen voran Ulla Berkéwicz selbst, haben dagegen die Fantasie von einer geistigen Belebung durch die vielfältigen Suchbewegungen innerhalb der Szenen Berlins gesetzt. Da weiß man nun auch wieder nicht. Natürlich ist Berlin ein Labor, aber doch eher zum individuellen Ausprobieren privater Lebensentwürfe. Jeder, der das zu gesamtgesellschaftlichen Entwürfen hochschreiben wollte, blieb bislang in halbgarer Trendberichterstattung stecken. Manches setzt sich auch schon längst wieder, zumal in Prenzlauer Berg. Und wie all das kapitalisiert und in einen soliden Unternehmensumsatz umgesetzt werden soll, ist eh die Frage.

Bezeichnend eine Szene, die ein befreundeter Journalist neulich im „Café Oberholz“, einem Treffpunkt der digitalen Boheme, beobachtet und auf Facebook gepostet hat. Zwei junge Menschen saßen am Nebentisch, ein Amerikaner und eine Deutsche. Der Ami: „I want to write poetry und do crazy things.“ Die Deutsche: „Many friends don’t have a geschäftsmodell.“

Klar ist es interessant, in Berlin zu leben (zumal zeitgleich, großes Straßentheater, vor den Fenstern ein besetztes Haus geräumt wurde). Manchmal kommt einem das alles auch ganz toll hauptstädtisch vor. Manchmal aber auch ziemlich klischeehaft, wie im Kino. Aber der Hinweis aufs Geschäftsmodell ist ernst zu nehmen. Poesie und crazy things muss man sich leisten können.

Das ist vielleicht die fragwürdigste Fantasie: dass man durch den Anschluss an die quirlige Szene Berlins ein neues Vornedransein entdeckt, das Suhrkamp neu begründen könnte. Chefinnen und Chefs mögen solche Fantasien von neuen großen Erzählungen, weil sie dann mit einem Schlag alle ihre Sorgen loswären. Aber die klügeren Chefs wissen, dass das im Grunde eine Erlösungsfantasie ist – und es in Wirklichkeit auf das tagtägliche Klein-Klein im Alltagsgeschäft ankommt.