: „Früher waren das Penner für mich“
Die Medikamente sind Spenden, die Mediziner arbeiten unentgeltlich: Seit zehn Jahren verarztet die Mobile Hilfe der Caritas Obdachlose – ohne Praxisgebühr und Chipkarte. Meist ambulant, doch für den Notfall gibt es Betten im Gesundheitszentrum
von Maik Dähling
Horst Kanngießer* war Untermieter in einer SAGA-Wohnung. Als sein Mitbewohner vor anderthalb Jahren auszog, musste auch er raus. Seitdem lebt der 54-Jährige auf der Straße. In Hamburg als arbeitsloser Ex-Junkie im Methadon-Programm eine neue Wohnung zu finden, sei schwierig, erzählt er. Anfang des Jahres schlägt er sich seine durch Thrombose stark geschwollenen Beine an einer Parkbank auf. „Das Blut spritzte nur so, anderthalb Liter habe ich damals verloren“, erinnert er sich. Mittlerweile seien die Schmerzen nach einer Stunde Gehen oder Stehen nicht mehr auszuhalten.
Wie viele Obdachlose scheut auch Horst Kanngießer den Weg in die Arztpraxis. Die Gründe dafür sind vielfältig. Viele schreckt die Praxisgebühr ab. Andere wagen es einfach aus Scham nicht, die gepflegten Wartezimmer der Praxen zu betreten oder haben dort schon schlechte Erfahrungen gemacht. Um diesem Problem zu begegnen, ist seit zehn Jahren die Mobile Hilfe im Einsatz. Der zur rollenden Arztpraxis ausgebaute Mercedes-Bus der Caritas fährt von Obdachlosen häufig besuchte Plätze wie Tagesstätten oder Essensausgabestellen an.
Die Medikamente, mit denen die Einbauschränke im Bus gefüllt sind, sind Spenden – von Privatleuten, Ärzten und Apothekern, die Produkte, deren Verpackung beschädigt ist, nicht mehr verkaufen dürfen. Der Arzt, der neben einem Zivildienstleistenden und einer Schwester der Caritas an Bord ist, arbeitet unentgeltlich – im täglichen Wechsel.
Heute fährt Dr. Stanislaw Nawka mit. Mit neun Jahren Dienstzeit ist der Allgemeinmediziner mit Praxis in Bergstedt der Oldie bei der Mobilen Hilfe. Hier könne er arbeiten wie ein Arzt und müsse nicht wie ein Bürokrat immer das Budget im Hinterkopf haben, sagt der 45-Jährige, der es sich während der Fahrt auf dem Patientensitz gemütlich macht. Offene Beine, über den gesamten Körper verteilte Eiterherde und Erkältungen seien die häufigsten Krankheiten seiner wohnungslosen Patienten. „Das größte Problem sind aber Suchtkrankheiten“, sagt Nawka. Junkies verweist er weiter an Drogeneinrichtungen. Methadon und Psychopharmaka gibt es bei der Mobilen Hilfe nicht.
Horst Kanngießer ist der Erste in einer kleinen Schlange von Hilfesuchenden, die vor dem Haus Bethlehem – ein von vier Ordensschwestern geleitetes Missionshaus in der Budapester Straße – auf die mobilen Mediziner warten. Praxisgebühr und Krankenkassenkarte werden hier nicht verlangt. Zivi Satilmis Tepe nimmt lediglich die Personalien in einen Laptop auf. Durch die zehn Monate bei der Mobilen Hilfe hat sich sein Bild von Obdachlosen verändert. „Früher waren das einfach nur Penner für mich“, erzählt der 21-Jährige. Doch die Biographien einiger Patienten haben ihn nachdenklich gemacht. Ein Malermeister, ein Informatiker und sogar ein Gymnasiallehrer seien darunter gewesen. Die Erkenntnis, dass das Obdachlosenschicksal jeden treffen kann, schützt vor abwertenden Verallgemeinerungen.
Das Bein von Kanngießer hat sich unterhalb seines Knies nahezu schwarz verfärbt. Nawka kann nicht mehr tun, als die vertrocknete, eingerissene Haut einzureiben und zu verbinden. Da er seinen Patienten in diesem fortgeschrittenen Stadium ambulant nicht ausreichend behandeln kann, greift Schwester Annette Wyrwol zum Handy. Kanngießer soll in die Krankenstube der Caritas im Gesundheitszentrum an der Seewartenstraße eingeliefert werden. Elf Betten stehen dort für Obdachlose zur Verfügung. Die Aussicht, eine Woche im Krankenhaus verbringen zu müssen, stimmt den 54-Jährigen nicht gerade heiter. Trotzdem verspricht er, dort morgen aufzutauchen, während er mühsam seine Strümpfe wieder überstreift und sich wiederholt bei Nawka bedankt. Nach ihm warten jetzt noch drei weitere Männer, und die wollen vor allem Vitamintabletten.
Nawka benutzt die Brausetabletten als Lockmittel. „Dadurch kommt oft der erste Kontakt zustande. Die Leute merken dann, wie der Umgang hier ist, und man kann langsam eine Vertrauensbasis aufbauen“, erzählt er. Nicht jedem Arzt gelingt dies. Man müsse die Sprache der Obdachlosen sprechen, denn die hätten ein feines Gespür dafür, wie man mit ihnen umgeht, weiß Nawka. Wer beispielsweise glaubt, jeden Patienten auf Anhieb duzen zu können, habe bei vielen sofort jede Chance verspielt.
Bevor die Fahrt weitergeht, stattet Nawka den katholischen Schwestern im Haus Bethlehem noch einen Besuch ab. Im Speiseraum stehen über 30 Obdachlose schweigend mit gefalteten Händen vor einem Teller warmer Suppe, während eine Ordensschwester ein Gebet spricht. Am Ende bekreuzigen sich alle – auch der gläubige Katholik Nawka, der sich in der Küche mit einem schnellen Kaffee aufwärmt. Die Arbeit bei der Mobilen Hilfe bedeute für ihn vor allem, „Christsein nicht nur zu predigen, sondern zu leben“.
Die zweite Station des Tages ist die Stadtmission, eine Tagesstätte für Obdachlose der evangelischen Kirche Altona. Dort wartet ein alter Bekannter auf den „Doktor“. Dieter Hohmann* ist 60 Jahre alt, war davon 26 Jahre alkohol- und tablettenabhängig und ist jetzt seit 20 Jahren trocken. Der Entzug sei ihm per Gerichtsbeschluss verordnet worden, nachdem er im Vollrausch seiner Frau mit dem Beil in die Schulter geschlagen habe, erzählt Hohmann. Er selbst erinnert sich an den Vorfall nicht. Erst vor Gericht habe er erfahren, was er getan hat. Vor seinem Entzug habe sein Tagespensum aus zwei Flaschen Rum, einer Kiste Altbier und diversen Schnäpsen bestanden. Wie zum Beweis zeigt er Nawka ein Gutachten mit seinen Leberwerten. „Ihr Kollege meinte, solche Werte hätte er noch nicht gesehen“, sagt er.
Doch wegen seiner Leber ist er nicht hier, die, kommentiert er trocken, sei ohnehin „nicht mehr zu retten“. Aber sein Rücken schmerze noch immer, obwohl er eine Wohnung gefunden hat und nicht mehr draußen auf hartem, kalten Boden schlafen muss. Schwester Annette füllt schmerzstillendes Gel in eine Filmdose und überreicht die gewünschten Vitamintabletten. Viel Zeit zum Plaudern hat Hohmann diesmal nicht, sein nächster Termin wartet schon: Zusammen mit einem Sozialarbeiter klärt er Jugendliche über die Gefahren des Alkohols auf – drastisch illustriert durch seine Lebensgeschichte.
Insgesamt ein vergleichsweise ruhiger Tag, zieht Nawka auf der Rückfahrt ins Gesundheitszentrum Bilanz. Doch das sei am Monatsanfang häufig so. Dann hätten die meisten noch Geld für das „Schmerzmittel Alkohol“. Nawka sagt das freundlich, frei von abwertender Arroganz und geheucheltem Mitleid. Genau so wie er zuvor mit seinem Patienten gesprochen hat.
*Namen geändert