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Archiv-Artikel

Muslime stehen auf Berlin

INTEGRATION In der Stadt sind sie längst heimisch, im Land aber noch lange nicht – so das Ergebnis einer Befragung von Muslimen in Berlin. Die ist Teil einer europaweiten Studie, bei der Deutschland ziemlich schlecht abschneidet

„Der nationale Integrationsdiskurs grenzt aus, der lokale schließt ein“

WERNER SCHIFFAUER, ETHNOLOGE

VON ALKE WIERTH

Berliner Muslime fühlen sich mit der Stadt sehr verbunden. Mit Deutschland identifizieren sie sich dagegen erheblich weniger. Das ist das Ergebnis einer Studie über Muslime in Europa, deren Berliner Teil der Senatsintegrationsbeauftragte Günter Piening am Montag vorgestellt hat. Das Forschungsprojekt „Zuhause in Europa“, koordiniert vom Londoner Open Society Institute, hat in elf europäischen Städten von Stockholm über London und Berlin bis Marseille die Identifikation muslimischer EinwohnerInnen mit der Mehrheitsgesellschaft untersucht. Dafür wurden insgesamt 2.200 Muslime und Nichtmuslime befragt und Gespräche mit VertreterInnen muslimischer Verbände sowie von Politik und Verwaltung geführt.

Erheblich größer als andernorts sei in Berlin die Diskrepanz zwischen der Identifikation der befragten Muslime mit der Stadt auf der einen und dem Staat auf der anderen Seite, so die Ethnologin Nina Mühe von der Viadrina-Universität Frankfurt/Oder. Sie hat für den Berliner Teil der Studie jeweils einhundert Muslime und Nichtmuslime interviewt sowie sechs Gruppengespräche und achtzehn ExpertInneninterview durchgeführt.

Während sich 80 Prozent – gegenüber 76 Prozent der Nichtmuslime – stark mit ihrem Wohngebiet und Berlin identifizieren, empfinden nur halb so viele die gleiche Verbundenheit gegenüber Deutschland. Sogar nur 25 Prozent der Befragten betrachten sich als Deutsche – obwohl jeder Zweite von ihnen deutscher Staatsbürger ist. Und nur 11 Prozent sind der Meinung, auch von anderen als Deutsche angesehen zu werden.

Da unterscheiden sich die Berliner Ergebnisse deutlich vom europäischen Mittelwert: 72 Prozent der europaweit befragten Muslime identifizieren sich mit ihrer Stadt. Und 61 Prozent auch mit dem Land, in dem sie leben – das sind 20 Prozent mehr als in Deutschland. Spitzenreiterin unter den Städten ist dabei London: Dort haben 72 Prozent der Muslime eine starke Verbundenheit zur Nation, 40 Prozent haben das Gefühl, auch von anderen Briten als Mitbürger betrachtet zu werden.

Die schlechten Berliner Ergebnisse, so Werner Schiffauer, Professor für Ethnologie an der Viadrina-Universität und wissenschaftlicher Berater der europäischen Studie, seien Ergebnis der unterschiedlichen Blickwinkel, mit denen Debatten über Integration auf nationaler und lokaler Ebene geführt würden: „Während der nationale Diskurs abstrakte Fragen wie Werte und Voraussetzungen von Zugehörigkeit in den Fokus stellt, geht es lokal um pragmatische Fragen von Partizipation und praktischem Zusammenleben“, so Schiffauer: Der nationale Diskurs grenze aus, der lokale schließe ein.

Als positives Beispiel führten Schiffauer und Piening das Berliner Islamforum an: Hier setze sich Innensenator Ehrhardt Körting (SPD) selbst mit muslimischen Organisationen zusammen, obwohl diese teilweise vom Verfassungsschutz beobachtet würden. Auf nationaler Ebene, so Schiffauer, sei das „ein Ausschlusskriterium“ für jeden Dialog. Selbst ein von Muslimen regelmäßig eingefordertes Bekenntnis zu bestimmten Werten ändere das meist nicht: Es werde ihnen schlicht nicht geglaubt, so Schiffauer.

Dass solches Vorgehen falsch sein könnte, legen Mühes Erhebungen nahe: Die befragten Muslime und Nichtmuslime sind sich auf der Ebene abstrakter Werte nämlich sehr nahe. So liegt die Übereinstimmung bei Prinzipien wie Toleranz oder Religionsfreiheit bei 75 Prozent. Trotzdem glaubt ein Großteil der Muslime nicht, dass ihre Nachbarn diese Werte teilen. Ihre Verbundenheit mit Berlin beeinträchtigt das offenbar nicht.

Wenn Deutschland also „europaweit Schlusslicht bei der nationalen Identifikation von Muslimen“ sei, so Pienings Fazit, belege die Befragung, dass dies nicht mit Integrationsunwillen oder gar „Ablehnung der Verfassung“ zu tun habe. Stattdessen seien es Ausgrenzung und „Mangel an Anerkennung“, die den lokal gut integrierten Muslimen staatliche Identifikation erschwere. Sie fühlten sich „ins Abseits gedrängt“, so der Integrationsbeauftragte. Mehr als 50 Prozent der in Berlin befragten Muslime hatten angegeben, persönliche Erfahrungen mit ethnischer oder religiöser Diskriminierung gemacht zu haben.

Ein ausführlicher Abschlussbericht der Studie soll im April veröffentlicht werden.