Maria voller Hoffnung

Vor allem die Twens in Indien nutzen den Boom und arbeiten sich aus den Slums nach oben. Maria Swarmi ist eine von ihnen. Als Callcenter-Agentin hat sie ein besseres Leben – leider noch auf Pump

„Heute habe ich ein gutes Gehalt. Wenn ich Lust habe, etwas zu kaufen, kaufe ich es. Auch wenn es 500 Rupien kostet“

VON NATALIE TENBERG

Marias kleines Badezimmer im Norden Bombays zeigt das Nebeneinander von Tradition, Fortschritt, Wohlstand und Anachronismen in der urbanen Gesellschaft Indiens. Die Toilette ist ein Loch im gefliesten Boden, die Spülung ein Wassereimer, Toilettenpapier gibt es nicht, Die Dusche besteht aus einem großen Eimer, einer Tasse und einem Wasserhahn. Neben ihren Utensilien steht eine Flasche L’Oreal-Shampoo und die passende Pflegespülung, ein Marke, die in Indien von Bollywood-Stars beworben wird. Maria Swarmi, 24, arbeitet seit Februar 2005 im Callcenter der Icici-Bank im Stadtteil Malad und nimmt Anrufe aus den USA entgegen. Wenn Bankkunden in den USA ihren Kontostand prüfen möchten, landen sie bei Maria und ihren Kollegen in Bombay.

An der Fassade des mehrstöckigen Gebäudes, in dem Maria lebt, hängt Mehltau, der Beton der Stufen, die zum ersten Stock hochführen, ist brüchig. Ihre Wohnung ist spartanisch eingerichtet, die einzigen Dekorationen im kleinen Wohnzimmer sind ein buntes Jesusbild, mit Tesafilm an die Wand geklebt, eine Pflanze, ein blinkendes Taj-Mahal-Modell aus Plastik und ein modernes Telefon. Es ist nicht angeschlossen, einen Festnetzanschluss gibt es hier nicht. Die Räume aber sind sauber und gepflegt, einige Prospekte der katholischen Gemeinde liegen ordentlich gestapelt auf einem kleinen Tisch unter der Fensterfront. Der Fernseher ist ein kleiner Schwarzweißapparat. Der Bildschirm ist aus Schutz vor Staub mit blauer Folie überklebt.

„Amerikaner sind sehr höflich“, erzählt Maria begeistert. „Sie sagen immer Bitte und Danke. Neulich haben sie Thanksgiving gefeiert, und sie haben erzählt, dass sie dafür einen Truthahn braten und mit der Familie fernsehen. Wenn ich mal die Chance habe, in die USA zu reisen, dann werde ich das sicher tun!“ Sie trägt Jeans mit leichtem Schlag und ein langärmliges T-Shirt. In ihrer Hand hält sie ein Nokia-Handy; sie ist barfuß. Lily, 54, ihre Mutter, mit der sie seit einem halben Jahr in dieser Zweizimmerwohnung zusammenlebt, trägt einen grünen Sari aus Seide. Beide haben schwarzes Haar, das sie durch Hochstecken zu bändigen versuchen. Sie lächeln viel, sehen sich ähnlich, trotz der Unterschiede in der Kleiderwahl. Maria gestikuliert mehr als ihre Mutter, ihr Englisch ist flüssiger.

Sie lächeln, wenn sie vom letzten halben Jahr berichten, in dem ihr Leben eine fundamentale Wendung zum Besseren genommen hat. Aber auch wenn sie von den Entbehrungen ihres früheren Lebens erzählen. Durch Marias Anstellung im Callcenter gehören die beiden Frauen nun nicht mehr zur erdrückend großen Unterschicht Bombays, sondern zur aufstrebenden unteren Mittelklasse, die Konsum und Besitz für sich entdeckt. Die Zukunft der beiden Frauen liegt in dieser Wohnung, in diesem Gebäude, das legal gebaut wurde. Sie strahlen Zuversicht aus; sie müssen nicht mehr in einem Slumsystem leben, und sie sind finanziell unabhängig. Der Weg aus dem Slum führte Maria wie viele andere Bewohner Bombays in den Norden der Stadt, dorthin, wo es in diesem dicht bevölkerten Moloch noch Wohnraum gibt. Anderthalb Stunden Bahnfahrt vom Zentrum entfernt werden Apartmenthäuser hochgezogen, in die junge Familien ziehen, die niemals zuvor Privatsphäre, ein eigenes Bad oder eine legale Unterkunft hatten. Diese Bevölkerungsschicht ist überwiegend in den Zwanzigern, hat oft einen Universitätsabschluss und große Hoffnungen. „Ich möchte mich immer weiter verbessern“, sagt Maria über ihre Arbeit und ihr Leben.

Ihre Mutter verdient als Köchin in einem wohlhabenden Haushalt 2.500 Rupien, etwa 45 Euro im Monat, und es war ihr Bestreben, Maria und ihrer zwei Jahre älteren Schwester eine Ausbildung zu bieten. Sie selbst floh mit 13 vor dem Elend auf dem Land in die Stadt und lebte in einer Art gesicherter Armut. Sie hatte genug Geld, um die niedrige Miete für ihre Unterkunft im Slum zu zahlen und Nahrung zu kaufen, mehr jedoch nicht. Zunächst putzte sie Fußböden und wohnte bei der Familie, bei der sie angestellt war. Mit 24 heiratete sie und verließ den Haushalt. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie zwar Englisch sprechen, es aber weder lesen noch schreiben. Ihr Mann begann nach der Hochzeit zu trinken, und für Lily begann ein Leben ohne Sicherheit und Garantien. Ihr Mann verlor seinen Job und wollte nicht mehr arbeiten, so musste Lily ohne Ausbildung und besondere Fähigkeiten einen Job finden, der die Familie ernähren konnte. Sie nähte Kleider, und als Maria in die fünfte Klasse ging, begann sie zu Hause Papards, dünnes indisches Brot, zu backen und für 10 Rupien, etwa 18 Cent, pro 100 Stück an ein Geschäft zu liefern. Mit den 900 Rupien, die sie monatlich verdiente, schickte sie ihre Töchter auch dann auf die Schule, als sie ein zusätzliches Einkommen dringend gebrauchen konnte. „Ich wollte nicht, dass meine Töchter wie ich arbeiten mussten. Deshalb hatte ich mir fest vorgenommen, sie zu zwingen, ein Studium aufzunehmen. Aber es war hart.“ Auch Maria hat, während sie am Grant College in Bombay Handel studierte, Brot gebacken, um ihre Ausbildung zu finanzieren. Als Lily eine feste Anstellung als Köchin fand, wendete sich ihr Leben langsam, aber stetig zum Besseren. Nun war sie zwar noch immer arm, aber nicht mehr akut davon bedroht, in Not zu geraten. Sie konnte sich endlich eine Existenz ohne ihren Mann aufbauen. Durch Marias Einkommen von 10.000 Rupien im Monat ermöglicht sie ihrer Mutter endlich ein sorgenfreies Leben.

„Ich habe harte Zeiten durchgemacht“, sagt Maria, und obwohl sie lächelt, wirkt sie ernst. „Ich wollte nicht die gleichen Probleme in der Zukunft haben.“ Lily hat ihre Tochter mit harter Arbeit auf den Weg geschickt, die Tochter setzt ihn mit kluger Arbeit fort. Maria strebt nach den gleichen Dingen, nach denen viele ihrer Altersgenossen in anderen Ländern auch streben – einer eigenen Wohnung, einem Farbfernseher, einer sicheren Lebensgrundlage – gleichzeitig aber ist es für sie selbstverständlich, ihre Mutter finanziell ausreichend zu unterstützen. Ihre Konsumgewohnheiten mögen zwar westlich sein, ihr Wertesystem bleibt traditionell indisch: „Früher habe ich lange überlegt, bevor ich etwas gekauft habe, weil ich wusste, dass ich dieses Geld dann nicht mehr zu Hause meiner Mutter geben konnte“, sagt Maria. „Heute habe ich ein gutes Gehalt und kann auch mal an mich denken und zum Beispiel ein T-Shirt kaufen. Wenn ich Lust habe, etwas zu kaufen, dann kaufe ich es, auch wenn es 500 Rupien kostet.“

Für einige ihrer Kollegen ist das, was sie im Callcenter verdienen, nur ein Taschengeld. Maria ist es unverständlich, dass sie nicht wenigstens einen Teil ihres Gehalts an ihre Eltern weitergeben. Der Job im Callcenter ist für Jugendliche der Oberschicht kein Karriereweg, sondern oft nur ein Gelegenheitsjob, bei dem sie leicht viel Geld verdienen können. Für Maria ist es ein Job, bei dem es sich auszahlt, die strenge Klosterschule besucht zu haben, auf der sie die ihr fremde Sprache Englisch lernte. Eine Fähigkeit, die einen wichtigen Unterscheidungsfaktor im Geschäftsleben Indiens darstellt – wer Englisch sicher beherrscht, wird gerne eingestellt.

Ein Antrag für eine Hypothek für die Wohnung, in der Maria und Lily wohnen, liegt bereits bei der Bank; die Anzahlung von 50.000 Rupien ist gesichert. Zu lange hat Maria ohne fließendes Wasser gelebt, um den Vorzügen ihrer neuen Wohnung nicht absolute Priorität einzuräumen. Neben dem Fernseher steht eine Autobatterie, an die ein Trafo angeschlossen ist. „Mein Schwager hat das mitgebracht, als er das letzte Mal zu Besuch kam“, erklärt Maria. „Wenn der Strom ausfällt, können wir immer noch den Ventilator benutzen.“ Der Strom fällt oft aus, mehrmals in der Woche. Auch die Wasserversorgung ist instabil. Über dem Badezimmer ist ein Tank installiert, der 400 Liter Wasser fassen kann. Er ist zur Hälfte gefüllt. Die Waschmaschine, ein altes Modell aus Plastik, das mit kaltem Wasser läuft, steht im Schlafzimmer und wird aus einem Fass gespeist. Quer durch den Raum hängt eine Wäscheleine. Hier schlafen Maria und Lily. Schichtweise: die eine tagsüber, wenn sie sich von ihrer Schicht im Callcenter ausruht, und Lily nachts.

Jan Nijman, Professor für Geografie und regionale Studien an der Universität von Miami, hat das Phänomen der urbanen Mittelschicht in Bombay untersucht. „Das Kredit- und Finanzierungswesen wie auch Marketing und Werbeindustrie sind in den letzten Jahren explodiert, was neuen Konsum möglich gemacht hat, viel davon mit geliehenem Geld. Ich nutze dafür den Begriff ‚neue Mittelschicht von Schuldnern‘.“

Die indische Vorliebe, einen großen Teil des Gehalts zu sparen, ist in Marias Umgebung nicht mehr aktuell. Im urbanen Umfeld geben Menschen Geld für Luxus aus, auch wenn es nur im Kleinen ist. Beim Ausflug in die klimatisierten Einkaufszentren nach amerikanischem Vorbild können Maria und ihre Freundinnen sich keine der teuren Importprodukte leisten, ein Essen in den großen Food Courts jedoch durchaus. Oder eben ein Shampoo, das bei besonderen Gelegenheit benutzt wird.

Marias Lebensweg ist typisch für den der unteren Mittelschicht, jenen Teil der Gesellschaft, der das neue, aufstrebende und selbstbewusste Indien verkörpert wie kein anderer. Nach Regierungsangaben ist die Zahl der Armen in Indien zwischen 1977 und 2000 um 69 Millionen gesunken, es wird angenommen, dass sich dieser Trend in den vergangenen Jahren massiv fortgesetzt hat. Diese aufstrebende Schicht ist auch zunehmend die Zielgruppe internationaler Firmen. Im Jahr 2003 betrug das indische Einzelhandelsvolumen 270 Milliarden Dollar, noch immer 100 Milliarden Dollar weniger als in Deutschland. Allerdings verheißt die wachsende Kaufkraft von etwa 250 Millionen Konsumenten der unteren Mittelschicht einen verlockenden Markt.

Maria profitiert von der Erkenntnis ihrer Mutter, dass Bildung ein Ausweg aus der Armut ist und eine Stadt Chancen bietet, einen Job zu finden. Sie ist zufrieden, doch ihre Hoffnungen enden nicht im Callcenter. „Ich möchte weiterstudieren“, sagt sie. „Ich möchte gerne neben der Arbeit einen Innenarchitekturkurs machen. Nicht jetzt, vielleicht nächstes Jahr.“ Für die nähere Zukunft hat Maria andere Ziele. „Ich hätte gerne einen Farbfernseher“, sagt sie und schüttelt den Kopf. „Aber erst muss ich diese Wohnung kaufen.“