: Sie deckte Schönheit auf
FILMKRITIK In einer heute startenden Reihe im Arsenal-Kino werden die Lieblingsfilme von Frieda Grafe gezeigt. Die 2002 verstorbene Filmkritikerin entwickelte eine ganz neue Art, über Film zu schreiben. Eine Würdigung
■ Am heutigen 24. April beginnt im Arsenal-Kino das ehrgeizige Projekt „Wie Film Geschichte anders schreibt: Frieda Grafe – 30 Filme“. Die 30 Lieblingsfilme der Filmkritikerin Frieda Grafe (1934–2002) werden in drei Böcken gezeigt (Block zwei und drei finden im Juli und im Oktober statt).
■ Zu den ersten zehn Filmen zählen „Die Flammen meiner Liebe“ von Kenji Mizoguchi (Japan 1949), Billy Wilders „Avanti!“ (USA 1972), „Bitterer Reis“ von Giuseppe De Santis (Italien 1949) und „House by the River“ von Fritz Lang (USA 1950). Vor den einzelnen Filmen gibt es Einführungen, für die namhafte Referenten und Referentinnen gewonnen werden konnten: zum Beispiel der Filmemacher Christian Petzold, die Kuratorin und Filmwissenschaftlerin Marie-Hélène Gutberlet oder der große alte Mann der US-amerikanischen Cinephilie, Jonathan Rosenbaum. Das Programm findet sich unter www.arsenal-berlin.de.
VON CLAUDIA LENSSEN
Schreiben über Filme, das war für Frieda Grafe ein Kino der Sprache, eine zweite, andere Lebensform der bewegten Bilder, die sie berührten, amüsierten und zum Denken anregten.
Schreiben über Filme: In den Fünfzigerjahren gehörte diskrete Renitenz dazu. Mädchen mit Abitur und schöngeistigen Neigungen sollten Lehrerin, Übersetzerin oder gebildete Hausfrau werden. Das Feuilleton war Boheme, Kritik eine Männerdomäne und Film grosso modo überhaupt keine Kunst. Doch Frieda Grafe erreichte auf diesem vagen Terrain exklusive Berühmtheit. Filmkritik, wie sie sie verstand, war so etwas wie gute Küche – Slow Food für das von den Sinnen bewegte Hirn. Selbst ihre Tageskritiken entstanden langsam – mithilfe von Querlektüren sorgfältig erforscht – wie literarische Essays. Folglich konnte das Medium, das sie animierte und herausforderte, gar keine fixe journalistische Schreibstube sein, es war vielmehr die kleine feine, auch noch über ihr Ende 1984 hinaus bis heute einflussreiche Zeitschrift Filmkritik, in der sie ihre Maßstäbe setzte.
Im Kreis der cinephilen Filmkritik-Redakteure war Frieda Grafe die einzige Frau, die schrieb. Ihr Mann Enno Patalas hatte die Monatszeitschrift 1957 mitgegründet, die sich zu einem Epizentrum der Kritik am Film der Adenauer-Ära entwickelte, bis die aus Paris hinzugekommene Frieda Grafe vehement die Inspirationen der Nouvelle Vague, des Nouveau Roman und des frühen Strukturalismus in die Debatte warf.
Breit gestreutes Rüstzeug
Grafe forderte, dass die am deutschen Kino Verzweifelnden bei sich selbst beginnen sollten und über Filme etwa von Jean-Luc Godard, Agnès Varda und Alain Resnais anders schreiben sollten – damals, angesichts einer nicht existierenden Filmwissenschaft und gängigen, an der Literatur- und Theaterkritik orientierten Filmkritik, eine heftige Herausforderung. Freuds Psychoanalyse, die theatertheoretischen Pamphlete Antonin Artauds, Jean-Luc Godards fortlaufende Theoriefragmente, der „New Criticism“, Gertrude Steins sprachliche Materialästhetik, der Surrealismus, das kinematografische Raumverständnis von Fritz Lang und F.W. Murnau – kurz: Frieda Grafe erarbeitete sich ein breit gestreutes komparatistisches Rüstzeug, das sie beiläufig, aufs Wesentliche zugespitzt und fein ironisch dosiert in ihre Texte einmontierte.
Wo die 1934 geborene Frieda Grafe ihre Kindheit und Jugend verbrachte, war Kino-Enthusiasmus ein Fremdwort und der Lebensweg einer intellektuellen Frau nicht vorgezeichnet. Im westfälischen Mülheim an der Möhne wuchs sie in einer katholischen Gastwirtsfamilie auf. Die Eltern sahen den Gasthof als Erbe für Friedas einzigen Bruder vor, die Tochter sollte zum Ausgleich studieren dürfen, zunächst Romanistik, Germanistik und Philosophie in München.
Ein Jahr in Paris war in der Wirtschaftswunderära ein beliebtes Geschenk an volljährig gewordene Töchter. Auch Helma Sanders-Brahms, Ulrike Ottinger, Ula Stöckl, Margarethe von Trotta und Hanna Schygulla lebten damals in der französischen Metropole. Frieda Grafe setzte 1957 an der Sorbonne ihr Studium fort und arbeitete nebenher als Au-pair in einer Familie.
In Paris war sie „in tune“ mit der zeitgenössischen Moderne. Gleichzeitig entdeckte sie das Weimarer Kino, das ihr bis dahin vollkommen unbekannt war. Die Sorbonne bezog Filme ins philologische Studium ein. Cinephilie gehörte zum Zeitgeist zwischen postexistentialistischem Ernst und coolem Leichtsinn – für die junge Frieda Grafe eine Offenbarung, ein Gegengift gegen das deutsche Restaurationsklima.
In Münster, wo sie eine (nie abgeschlossene) Dissertation über Heinrich Mann begann, lernte sie den ehrgeizigen Filmkritiker Enno Patalas kennen und schloss sich der Filmkritik an. Frieda Grafe hatte in Paris ein Savoir-vivre gelernt, mit der sie in der westfälischen Provinz aneckte. Der Mangel an Filmkultur schockierte sie, überhaupt der restaurative Muff. Und Studentinnen, stellte sie fest, hatten mit Vorurteilen zu kämpfen, wenn sie sich schminkten und modische Frisuren trugen. Mit ihrem Sinn für Eleganz und gute Küche wirkte sie unhaltbar exzentrisch.
München, wohin sie Anfang der Sechzigerjahre mit Enno Patalas, ihrem neugeborenen Sohn und der Filmkritik zog, erlöste Frieda Grafe aus der Spießigkeit. Hier begann sie ihren Weg als Filmkritikerin, Essayistin und (Godard-)Übersetzerin.
Die Filmkritik griff die revanchistischen Strömungen der Fünfzigerjahre an. Das Kino sollte endlich als siebte Kunst anerkannt, Kritik als Gesellschaftskritik im öffentlichen Diskurs etabliert werden. Visuelle Formen zu analysieren galt damals als anstößiges avantgardistisches Unternehmen.
In den Sechzigerjahren bekräftigte Grafe in einer legendären Debatte in der Filmkritik Positionen, die sich auf die dekonstruierenden Ästhetiken von Godard, Antonioni, Varda und Truffaut stützten. Den literarischen Gehalt eines Films mit politisch korrekter linker Attitüde zu interpretieren, sollte nicht länger das Nonplusultra der Kritik sein. Es ging darum, Leser völlig unabhängig vom Kinobesuch zum Nachdenken anzuregen und Schulen des Sehens zu begründen. Auch im Diskurs-Chaos um 1968 hielt sie gegen die zunehmende Ideologisierung an ihrer Grundhaltung fest. Klaus Theweleit brachte es so auf den Punkt: „Manche decken dauernd Verbrechen auf, andere Schönheit – das war die Arbeit von Frieda Grafe.“
Für ihren Essay „Realismus ist immer neo-, sur-, super-, hyper“ erhielt Grafe 1980 einen vom Hanser Verlag einmalig gestifteten Preis für Filmpublizistik. Auch heute noch gilt dieser Text als brillante Abrechnung mit Siegfried Kracauers Realismus-Begriff, der in den Siebzigerjahren in den filmwissenschaftlichen Studiengängen der Universitäten zum mythischen Wahrheitskriterium geronnen war.
Aussichten öffnen
Der Essay entstammte einer ihrer legendären Filmseiten in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung, wo sie Regisseure und Schauspieler porträtierte, eine sehr persönliche, theoretisch durchdrungene Filmgeschichte in Fragmenten beschrieb und dazu in präzise gestalteten Bildreihen mit der Analogie zum filmischen Sehen experimentierte. Als „Frame, wo Aussichten sich öffnen“ erschien Frieda Grafe die Zeitungsseite. Aber Filmkritik, wie sie sie verstand, sollte nicht Denkfaulheit und Entscheidungsnot als Leserservice verkaufen. So verweigerte sie Inhaltsangaben und pflegte einen verknappten Stil voller Anspielungen und Metaphern, mit dem sie den Rhythmus filmischer Erzählweisen als Denken in Bildern verdichtete.
Es kam, wie es kommen musste. In den Neunzigerjahren fand die Zeitung ihren Stil „zu speziell“ und gab die Filmseiten auf. In foto- und filmtheoretischen Buchbeiträgen und Vorträgen setzte sie ihre Arbeit fort, schrieb über Rosa von Praunheim und Ulrike Ottinger. Josef von Sternbergs Genie beschäftigte sie immer wieder, zumal sie einen subtilen Flirt in Briefen mit ihm führte. Marlene Dietrichs 100. Geburtstag regte sie noch einmal zu einer großen Hommage an, bevor ihr eine schwere Krankheit die Kraft zum Schreiben nahm und Frieda Grafe 2002 in München starb.