: Tolstois letzter Halt
HIPPEN EMPFIEHLT In „Ein russischer Sommer“ von Michael Hoffman wird von den erbitterten Kämpfen um das Erbe des noch lebenden Dichterfürsten erzählt
Von Wilfried Hippen
Wie so oft ist der Originaltitel pointierter als die deutsche Übertragung, die eher ein Werbeslogan für das angepeilte Arthouse-Publikum ist. „The Last Station“ klingt dagegen viel inspirierter und mehrdeutiger, denn es geht hier sowohl um den letzten Bahnhof im Leben von Leo Tolstoi, wie auch um seinen letzten Standpunkt, seine letzte Entscheidung. Am 20. November 1910 starb der bedeutendste russische Schriftsteller im Bahnhof von Astapowo in der tiefsten russischen Provinz, nachdem er seinen Landsitz verließ und auf einer Reise, die eher eine Flucht vor den ständigen Querellen zwischen seiner Familie und seinen Anhängern war, an einer Lungenentzündung erkrankte.
Die Wochen davor waren von einem erbitterten Kampf um sein Erbe geprägt und es brauchte schon die Geduld eines Heiligen (als den die Tolstoianer ihn ja auch sahen), um solch ein Gezerre der Geier um den eigenen Körper zu ertragen. Diese letzte Phase in Tolstois Leben ist gut, wenn auch sehr subjektiv, dokumentiert, denn viele Zeitzeugen haben damals Tagebuch geführt oder später in ihren Erinnerungen darüber berichtet. Im Film selber wird darauf ironisch Bezug genommen, wenn Tolstois Arzt ewig mit geöffnetem Notizbuch dasitzt und jede noch so banale oder intime Äußerung des Dichterfürsten aufschreibt.
Auf all diesen Dokumenten beruht der Roman „Tolstois letztes Jahr“ von Jay Parini, der aus sechs Blickpunkten erzählt wird. Da im Kino fast immer ganz natürlich mit mehreren Perspektiven gearbeitete wird, konnte diese dramaturgische Konstruktion vereinfacht werden, und so gibt es im Film einen Protagonisten, der, stellvertretend für den Zuschauer, als Fremder neu in den Kreis um Tolstoi eingeführt wird und so alles frisch erfährt und erlebt. Dieser Walentin Bulgakow kommt auf das Gut des Grafen Tolstoi, Jasnaja Poljana, um dort als dessen neuer Sekretär zu arbeiten. Von dem intriganten Tolstoianer Tschertkow wurde er angewiesen, für ihn zu spionieren, aber schnell entwickelt er Sympathien für Tolstois Ehefrau Sofia, die leidenschaftlich um ihren Mann und sein Werk kämpft. Fast zwangsläufig ist dieser Zeuge ein eher schwacher Charakter und die Versuche des Regisseurs und Drehbuchautoren Michael Hoffman, ihm durch seine Gewissensbisse und die Romanze mit einer jungen Freidenkerin mehr Tiefe und dramaturgisches Gewicht zu geben, wirken halbherzig.
Da ist sogar die Bettszene des schrumpeligen Ehepaars Tolstoi saftiger und sinnlicher als die beiden nackten jungen Körper von James MacAvoy und Kerry Condon, die äußerst geschmackvoll aber deswegen eben auch recht langweilig für die Kamera aufeinander arrangiert wurden. Aber abgesehen von Paul Giamatti als der hinterhältige, devote Tschertkow scheinen die Nebenfiguren absichtlich so blass angelegt zu sein, damit die letzten Szenen der Ehe von Leo und Sofia um so lebendiger leuchten. Denn Christopher Plummer und Helen Mirren zeigen hier sehr eindrucksvoll, wozu die Creme der britischen Schauspielergilde fähig ist.
Die beiden tragen eine Reihe von intensiven und absolut glaubwürdigen Gefühlsschlachten aus, bei denen sich Helen Mirren so hysterisch gebärdet, als wäre sie in einem Roman von Dostojewski, und dennoch immer genau die Essenz dieser Figur trifft. Plummer muss dagegen viel introvertierter spielen, und darf die Figur nie zu eindeutig ansetzten, denn die Spannung des Dramas besteht ja auch darin, dass man nie genau weiß, ob der Altersstarrsinn oder die geniale Inspiration den alten Tolstoi dazu brachte, die Rechte für all seine Werke in einem Testament „der gesamten Menschheit“ zu vermachen.