piwik no script img

Archiv-Artikel

Feindbild Finanzkapital

GLOBALISIERUNG Auf dem Weltsozialforum werden Wege zum Green New Deal gesucht. Wachstumszwang und Bankenmacht in der Kritik. Lula kommt zur Stippvisite vorbei

Wir brauchen ein Bündnis zwischen den Unzufriedenen und den Enteigneten

AUS PORTO ALEGRE GERHARD DILGER

Die Welt steht Kopf – darin sind sich die meisten TeilnehmerInnen des Weltsozialforums einig. Das Wort von der „Zivilisationskrise“, das angesichts der Turbulenzen in der Weltwirtschaft und des Klimawandels bereits vor einem Jahr in Belém die Runde machte, kommt auch gestandenen Sozialdemokraten wie Ivar Pavan mühelos über die Lippen. Der Abgeordnete der Arbeiterpartei PT sprach das Grußwort zum ersten Teil des Strategieseminars im Landtag von Rio Grande do Sul, dem südlichsten Bundesstaat Brasiliens.

Derzeit habe das Finanzsystem Vorrang vor der „Realwirtschaft“ und der Umwelt, analysiert Susan George, nun gelte es, die Reihenfolge dieser „konzentrischen Kreise“ umzudrehen. Ihr Ausgangspunkt ist die Vergesellschaftung der Banken. Geld für den ökosozialen Umbau der Welt gäbe es genug, rechnet die Attac-Denkerin vor: „Das Vermögen der reichsten 8,5 Millionen Menschen der Welt beläuft sich auf 38 Trillionen Dollar, ein Drittel davon ist in Steuerparadiesen versteckt“.

Der Urbanist David Harvey aus New York sieht das Grundübel in der Vorgabe eines jährlichen Wachstums von durchschnittlich 3 Prozent, zu dem sich Liberale wie Sozialisten bekennen würden. Das derzeitige Krisenmanagement stelle diese Wachstumslogik ebenso wenig in Frage wie die Umverteilung von unten nach oben: Über 2 Millionen US-Amerikaner hätten in den letzten drei Jahren ihre Wohnungen verloren, während allein 2008 die Manager von neun US-Banken Prämien in Höhe von 32 Milliarden Dollar eingestrichen hätten.

„Für den Übergang zu einer nichtkapitalistischen Ordnung brauchen wir ein Bündnis zwischen den Unzufriedenen und den Enteigneten“, sagte Harvey den Teilnehmern. „Das Finanzkapital ist unser gemeinsamer Feind“, ergänzte Susan George, „das große Projekt ist es, jetzt zusammenzukommen“.

Den düsteren Globalanalysen setzte Paul Singer funktionierende Beispiele aus der Solidarwirtschaft entgegen. „Wir müssen auch über kurzfristige Lösungen reden“, sagte der linke Ökonom, der seit 2003 als Staatssekretär für solidarische Ökonomie in Brasília über ein kleines Budget verfügt. 2007 waren über 1,7 Millionen Brasilianer in 22.000 Kooperativen beschäftigt, berichtete er, und Jahr für Jahr kämen tausende selbstverwaltete Betriebe hinzu. Insgesamt jedoch machten sie immer noch weniger als 1 Prozent der Volkswirtschaft aus.

„Die sozialen Bewegungen müssen aus der Defensive kommen“, meinte auch João Felício vom brasilianischen Gewerkschaftsdachverband CU. In Brasilien gehe es bei der Präsidentschaftswahl im Oktober aber zunächst einmal darum, die „Rückkehr des Neoliberalismus“ zu verhindern.

Am Dienstagabend kam der scheidende Präsident Luiz Inácio Lula da Silva zu einer umjubelten Stippvisite nach Porto Alegre. „Warum hat Brasilien in Kopenhagen ein nichtssagendes Dokument unterstützt?“, fragte ihn Cândido Grzybowski, einer der Organisatoren des Froums. Die Antwort darauf blieb Lula ebenso schuldig wie eine auf die diplomatisch vorgetragene Kritik an den sozial und ökologisch problematischen Großprojekten, die er in ganz Südamerika vorantreibt.

Stattdessen verwies er auf seine Regierungsbilanz und attackierte die Länder des Nordens für deren Untätigkeit vor der Weltfinanzkrise und bei den Klimaverhandlungen. Am Mittwoch flog der Pragmatiker nach Davos, wo ihm die neu geschaffene Auszeichnung „Globaler Staatsmann“ überreicht wird. GERHARD DILGER