Gretchenfrage Billiglohn
EINZELHANDEL Die Branche steht vor der härtesten Tarifauseinandersetzung seit Jahren – die Arbeitgeber stellen die gesamte Lohnstruktur in Frage
■ Beschäftigte: Rund 3,3 Millionen Menschen arbeiten im Einzelhandel. Zwei Drittel davon sind Frauen.
■ Wirtschaftliche Lage: Umsatz und Verkaufsflächen legen mit wenigen Ausnahmen jedes Jahr zu. Gleichfalls die Gewinne, die die Beschäftigten erwirtschaften: Erhielten die Unternehmen im Jahr 2000 pro 1 Euro Personalkosten im Schnitt 20 Cent Bruttogewinn, waren es 2010 34 Cent.
■ Konzentrationsprozesse: Vor allem im Lebensmittelhandel mit rund 1,2 Millionen Beschäftigten tobt ein Verdrängungswettbewerb. 2011 hatten die fünf größten Händler (Edeka, Rewe, die Metro-Gruppe, die Schwarz-Gruppe, Aldi) ihren Marktanteil bereits auf 71,6 Prozent gesteigert. (voe)
VON EVA VÖLPEL
Verdienen Arbeitskräfte im Einzelhandel zu viel? „Wohl eher zu wenig“, sagt Regina Stollweg (Name geändert). Die 50-Jährige arbeitet in der Obst-und-Gemüse-Abteilung eines Edeka-Marktes in einer niedersächsischen Kleinstadt und bekommt 13,79 Euro brutto in der Stunde. „Mehr wird es für mich nicht mehr“, glaubt sie. „Viele Kolleginnen verdienen nur 9 oder 11 Euro.“
Wie viel die Arbeit einer Kassiererin oder Verkäuferin wert ist, wird in den nächsten Monaten zur Gretchenfrage zwischen dem Handelsverband Deutschland (HDE) und Ver.di. Während die Gewerkschaft derzeit versucht, den Versandhandelsriesen Amazon in den Einzelhandelstarifvertrag zu zwingen, stellen die Arbeitgeber große Teile dieses Tarifwerks in Frage.
Überraschend kündigte der HDE Ende Januar in allen Bundesländern nicht nur die Lohn- und Entgelt-, sondern auch die Manteltarifverträge. Sie regeln Urlaubsansprüche, Arbeitszeiten oder Zuschläge der Beschäftigten und werden in den Tarifrunden meist nicht angetastet. Statt also, je nach Bundesland, für 6,5 Prozent oder 1 Euro mehr Lohn zu streiten, muss Ver.di dafür sorgen, dass der Flächentarifvertrag, der vor allem im Lebensmitteleinzelhandel noch verbreitet ist, nicht durchlöchert wird. In Rheinland-Pfalz wird bereits verhandelt, in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein geht es nächste Woche los, die anderen Länder folgen.
„Die Arbeitgeber wollen eine neue Lohnstufe für Billigkräfte“, glaubt Stollweg. „Und sie wollen an die Zuschläge für Spätschichten, Nacht- und Wochenendarbeit ran.“ Für sich selbst befürchtet Stollweg, die ab sechs Uhr morgens Obst und Gemüse schnippelt, Dressings prüft, Champignons oder Paprikas füllt, 200 Rezepte im Kopf hat, das nicht. „Aber fast alle meine Kolleginnen arbeiten mehrmals in der Woche ab 20 Uhr in der Nachtschicht. Dafür gibt es einen 50-prozentigen Zuschlag, den sie als erzwungene Teilzeitkräfte bitter nötig haben.“
Heribert Jöris, Geschäftsführer des HDE, will die Aufregung dämpfen. „Ver.di macht Panik“, sagt er. Er sagt aber auch: „Einfache Tätigkeiten müssen sich in eine vernünftige Zahlungshierarchie einordnen.“ Für den HDE ist das Tarifwerk, das in Grundzügen noch aus den 1950er Jahren stammt, veraltet. Jöris verweist gern auf die Kaltmamsell oder den Fahrstuhlführer, die sich darin noch finden. Und er betont: „Wir wollen nicht an Urlaubs- oder Weihnachtsgeld, an Sonderzahlungen oder die Altersvorsorge ran, sondern veraltete Tätigkeitsbeschreibungen modernisieren. Und wir brauchen flexiblere Arbeitszeiten.“
Dass Kassiererinnen teilweise mehr verdienen als eine Fachkraft an der Käsetheke, findet Jöris falsch. Auch Verräumtätigkeiten seien zu hoch bezahlt, sagt er. Große player wie Rewe, Edeka oder Netto greifen deswegen auf Fremdfirmen zurück. So bestücken mittlerweile mindestens 50.000 Beschäftigte per Werkvertrag für 6 oder 6,50 Euro die Regale, dazu rund 170.000 Leiharbeiter. Für Jöris genug Gründe für eine neue Entgeltordnung, „sonst steigen noch mehr Arbeitgeber aus der Tarifbindung aus, so wie Globus kürzlich.“
„Im Einzelhandel gibt es keine so klaren Abgrenzungen. Die meisten machen alles: Kasse, Ware verräumen, im Lager arbeiten“, widerspricht Stollweg aus der Obst-und-Gemüse-Abteilung. „Wo will man uns künftig also einsortieren, in die billigste Stufe?“ Sie selbst verkauft einmal in der Woche im Backshop Brötchen. Sie findet die 9, maximal 13,79 Euro, die eine Kassiererin in Niedersachsen je nach Erfahrung und Dauer im Betrieb verdienen kann, nicht viel.
Über eine neue Entgeltordnung haben Ver.di und der HDE bereits von 2004 bis 2012 verhandelt. Als sie am Ende getestet wurde, war es vorbei mit der Kooperation. „Die Arbeitgeber wollten Beschäftigte realitätsfremd tiefer eingruppieren, dazu waren wir und die Betriebsräte nicht bereit“, sagt Rüdiger Wolff, Einzelhandelsexperte bei Ver.di. Die Gewerkschaft verlangt, dass die alten Manteltarifverträge unverändert in Kraft gesetzt werden. „Wir verhandeln erst über höhere Löhne und danach über eine neue Entgeltstruktur“, so Wolff.
Für Reinhard Bispinck von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zeigt das Vorgehen des HDE, dass die Arbeitgeber mit ihrer Auslagerungsstrategie an Grenzen stoßen. „Sie haben ein Imageproblem, weil die Öffentlichkeit die Billiglöhne ablehnt, und sie haben rechtliche Probleme. Kassiererinnen sind legal kaum als Werkvertragsnehmer zu beschäftigten, da müssten die Fremdfirmen schon eigene Kassen mitbringen.“ Die Tarifrunde finde nun unter maximalem Druck statt. „Die kann auch mal ein Jahr dauern.“