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Archiv-Artikel

Schnelles Handeln kann Multiple Sklerose stoppen

Seit langem schon rätseln Ärzte über den Auslöser der Multiplen Sklerose. Bisher wurde angenommen, ein fehlgeleitetes Immunsystem sei schuld

Einmal in Gang gesetzt, schreitet die Zerstörung der Nerven rasch voran

Anfänglich verspürte Josef E. nach dem alltäglichen Waldlauf nur leichte Schmerzen in seinen Beinen. Doch die Beschwerden verschlimmerten sich immer mehr. Er begann zu hinken und benötigte einen Gehstock. Eine Magnetresonanztomografie bestätigte schließlich die Verdachtsdiagnose: Multiple Sklerose (MS). Trotz Therapie verschlimmerte sich sein Zustand so sehr, dass er letztendlich einen Rollstuhl benötigte.

Ganz anders verlief die Erkrankung bei Bärbel K. Sie litt unter Lähmungen, Taubheitsgefühlen und Sehstörungen. Sie wurde umgehend mit Medikamenten behandelt und konnte nach einem Jahr wieder ohne größere Schwierigkeiten gehen.

Warum verläuft die Multiple Sklerose so unterschiedlich? Hängt das mit ihren Ursachen zusammen? Seit über einem Jahrhundert zerbrechen sich Wissenschaftler darüber den Kopf. Inzwischen wird eine zerstörerische Abwehrreaktion des Körpers als Auslöser angesehen: Das Immunsystem hält bestimmte Strukturen im Gehirn fälschlicherweise für körperfremd und attackiert diese. Hierbei dringen bestimmte Zellen des Immunsystems, die T-Zellen, in das Gehirn oder Rückenmark ein und zerstören dort die Markscheiden, die die Fortsätze der Nervenzellen umhüllen. Nach dieser Zerstörung ist es den Nerven kaum noch möglich, Signale zu versenden. Dies hat schwerwiegende Auswirkungen – Lähmungen, Schluckstörungen, Taubheitsgefühle oder Sehstörungen.

Um die Autoimmunreaktionen zu unterdrücken, wurden verschiedene entzündungshemmende Medikamente entwickelt. Einige dieser Medikamente enthalten ß-Interferon – einen körpereigenen Botenstoff des Immunsystems. Als geeignet erwiesen hat sich auch ein künstlich aus den Aminosäuren Alanin, Glutaminsäure, Lysin und Thyrosin hergestelltes Peptid, das in Deutschland unter den Namen Copaxone im Handel ist. Es fördert offenbar die Freisetzung entzündungshemmender Stoffe und erhöht zudem die Widerstandskraft der Nervenzellen selbst gegenüber zerstörerischen Einflüssen.

Inzwischen sind deutliche Zweifel daran aufgekommen, dass die Autoimmunreaktion die alleinige Ursache der Erkrankung ist – unter anderem durch Studien mit dem Medikament Campath. Es ist ein künstlicher Antikörper, der zunächst zur Therapie der Leukämie, des weißen Blutzellkrebses, eingesetzt wurde. Da Campath jedoch auch die Immunantwort des Körpers unterdrückt, testete der Hersteller die Substanz an MS-Patienten. Dabei zeigten erste Studien, dass Campath die Entzündungen bei manchen MS-Patienten sehr wirkungsvoll unterdrücken konnte und neue Schübe verhinderte. Aber bei anderen Kranken verschlechterte sich der Zustand – obwohl keine weiteren Entzündungen der Markscheiden mehr auftraten.

Dies deutet daraufhin, dass es noch etwas anderes als die Autoimmunreaktion gegen die Markscheiden gibt, das die Krankheit vorantreibt. Offenbar gehen die Nervenzellfortsätze selbst zugrunde, wenn die Markscheiden ein gewisses Maß an Zerstörung erfahren haben. Elektronenmikroskopische Fotos von Bruce Trapp, einem Neurowissenschaftler von der Cleveland Clinic Foundations, bestätigen diese Annahme. Auf den Fotos sind schwere Zerstörungen der Zellfortsätze MS-geschädigter Nerven erkennbar. Manche Fortsätze bestehen aus mehreren Stücken, deren Enden sich zu ballonartigen Strukturen umgeformt haben.

Einmal in Gang gesetzt, schreitet die Zerstörung rasch voran – und zwar auch dann, wenn entzündungshemmende Medikamente gegeben werden. Dies zeigt eine Studie des Neurologen Christian Confavreux vom Hopital Neurologique. Er wertete die Daten von über 1.844 MS-Patienten aus. 85 Prozent von ihnen litten an schubartiger MS, mit plötzlichem, unvorhersagbarem Auftreten von Symptomen, bei den restlichen 15 Prozent war der Verlauf der Krankheit fortschreitend. Bei den Erkrankten der ersten Gruppe entwickelten sich bleibende Behinderungen deutlich langsamer als bei den Patienten der zweiten Gruppe. Nachdem die Patienten aber einen bestimmten Grad der Behinderung erreicht hatten, verlief die Erkrankung in beiden Gruppen gleich – und zwar unabhängig davon, ob weitere MS-Schübe auftraten. Den Patienten blieben dann in der Regel noch vier bis sieben Jahre, bis sie auf den Rollstuhl angewiesen waren.

Offenbar ist es der Untergang der Nervenzellen, der den Beeinträchtigungsgrad eines MS-Kranken prägt. Auch für diesen Untergang sind zunächst entzündliche Prozesse mitverantwortlich. Ist die Zerstörung der Nervenzellfortsätze jedoch einmal in Schwung gekommen, schreitet die Erkrankung unaufhaltsam fort. Diese Erkenntnisse sollten bei der Therapie berücksichtigt werden: Patienten mit Multipler Sklerose müssen schnellstmöglich mit entzündungshemmenden Medikamenten behandelt werden, die die anfänglichen Entzündungsreaktionen wirksam unterdrücken. Denn nur so kann der Beginn eines unaufhaltsamen Zerstörungsprozesses hinausgeschoben oder sogar gänzlich verhindert werden.

CLAUDIA BORCHARD-TUCH