Ukraine fordert Entwicklungshilfe

TSCHERNOBYL Zum Jahrestag des Unfalls beziffert die Regierung den Schaden auf 180 Milliarden Dollar

Inzwischen haben am Reaktor die Bauarbeiten für den zweiten Sarkophag begonnen

STOCKHOLM/BERLIN taz | Die Atomkatastrophe von Tschernobyl von 1986 hat in der Region nach Schätzungen der ukrainischen Regierung einen volkswirtschaftlichen Schaden von etwa 180 Milliarden Dollar verursacht. Das hat der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch anlässlich eines Besuchs des Kraftwerks nach Angaben der Nachrichtenagentur „Worldwide News Ukraine“ am 27. Jahrestag der Nuklearkatastrophe erklärt. Er forderte ein umfassendes Entwicklungsprogrammm für die Region.

Etwa 2.700 Menschen arbeiten auch heute noch in dem Atomkraftwerk in Tschernobyl, obwohl der letzte Reaktor im Jahr 2000 abgeschaltet wurde. Am 26. April 1986 hatte sich hier der bisher schwerste Unfall in einem Atomkraftwerk ereignet, als der Reaktorkern explodierte, tausende Menschen verstrahlte und die Umgebung in eine Sperrzone verwandelte. Das ukrainische Parlament hat inzwischen beschlossen, das Kraftwerk in vier Phasen stillzulegen: Entfernung der Nuklearbrennstoffe (2010–2013), Schutz der Reaktorsysteme (2013–2022), Senkung der Systemradioaktivität (2022–2045) und schließlich Rückbau (2045–2065).

Zum Jahrestag teilte nun der ukrainische Premierminister Mykola Asarow mit, dass die Arbeiten an der neuen Ummantelung des vierten Reaktors des Kraftwerks in Tschernobyl begonnen haben und bis 2015 abgeschlossen werden sollen. Dieses Projekt wird von mehr als 40 Staaten finanziert. Derzeit ist der Reaktor in dem ursprünglichen Sarkophag eingeschlossen, der in großer Eile errichtet wurde, während Feuerwehr und Rettungsleute noch mit dem Löschen des Feuers im Reaktor beschäftig waren. Mehr als 400.000 Kubikmeter Beton und 7.300 Tonnen Metall wurden verbaut. Doch der alte Sarkophag ist brüchig; erst vor einigen Wochen war dort eine Wand eingestürzt.

Die Atomexpertin der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms, hat dagegen die EU-Politik gegenüber der ukrainischen Atomwirtschaft kritisiert. „Die EU hat bereits 300 Millionen Euro für das ukrainische Atomprogramm bewilligt. Die Entscheidung über weitere 300 Millionen steht noch aus“, sagte Harms. Offiziell solle das die Sicherheit der Reaktoren erhöhen, es verlängere aber vor allem die Laufzeit der alten Meiler, die noch aus der Sowjetzeit stammen. Die Mittel sollten so nicht vergeben, sondern stattdessen lieber „in den nachhaltigen Umbau der Energiesysteme gesteckt werden.“

Mit dieser Debatte ist gerade auch die litauische Regierung beschäftigt. Denn obwohl dort vor einem halben Jahr die Bevölkerung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln für das Ende des nationalen Atomprogramms gestimmt hatte, holt die Regierung diese Pläne jetzt wieder aus der Schublade. In dieser Woche will die Regierung mit den Nachbarländern Estland und Lettland Gespräche beginnen, um auszuloten, ob die Staaten sich an einem Neubau in Litauen beteiligen wollen.

Litauen hat eine Vergangenheit als Atomstromland. Bis zu der von der EU erzwungenen Abschaltung des AKW Ignalina Ende 2009, das noch aus Sowjetzeiten stammte, beruhte die Stromversorgung des Landes hauptsächlich auf der Nukleartechnik, die dem Staat auch Exporterlöse brachte. Jetzt ist das Land in hohem Maß von russischem Erdgas abhängig.