Die Kunst des schönen Glitzerns

Der Times Square ist eine Touristenattraktion wie der Louvre – und bestimmt bald Teil des Weltkulturerbes. Gerade sind die New Yorker aufgerufen, die schönste Neonreklame der Kreuzung zu wählen. Die Grenzen fließen zwischen Werbung und Kunst

Bald hängen die Boards in den Museen, auf dass wir ihre handwerkliche Schönheit verstehenDie Werbung am Times Square ist nicht schöner als anderswo. Aber hier will man unbedingt staunen

VON TOBIAS MOORSTEDT

Der Times Square kann mit seinen Bildschirmen und Neonschildern für alles Werbung machen – auch für seine eigene Zerstörung. Am 5. Dezember feierte „King Kong“ Premiere in New York. Ein großer Tag, fand Bürgermeister Michael Bloomberg und erklärte den Tag zum „King Kong Day“. Um 17.42 Uhr wurden dann alle Flatscreens und Jumbotrons auf der berühmten Straßenkreuzung synchronisiert und zeigten Clips aus dem Blockbuster. Dutzende Botschaften verschmolzen zu einer überdimensionalen Werbeanzeige. Und einmal sah man auf den Bildschirmen auch den Times Square selbst, wie seine Gebäude und die Autos und Menschen darauf von einem Riesenaffen zerfetzt wurden. „Ladies and Gentleman – we give you: Kong!“

Am Affen-Tag wurde die Macht der bunten Banner mal wieder offensichtlich. Obwohl Leuchtreklame in Zeiten von Spam, personalisierter Banner-Werbung und dem TV-Spot-Endlos-Loop eigentlich doch ein überkommenes Konzept zu sein scheint. Am Times Square aber stehen die großen Lichter noch im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit – die beeindruckenden Gebäude wie etwa der große Turm mit der Hausnummer 2 sind nur Staffagen für die bunten Buchstaben, die Flachbildschirme, die Lautsprecher und Billboards. 69 Millionen Dollar werden hier laut dem Branchenmagazin Advertising Age pro Jahr mit Werbung verdient. Der Times Square ist eine Touristenattraktion wie der Louvre, das Brandenburger Tor oder der Petersplatz und bestimmt bald Teil des Weltkulturerbes.

Aber welche ist die berühmteste Werbe-Installation an der Kreuzung von 42. Straße und Broadway? Um das herauszufinden, hat die Times Square Association, ein Verbund der ansässigen Geschäftsleute, nun den Design-Preis 2005 ausgerufen. Eine Jury aus Kuratoren, Architekten und Designern hat eine Liste aus 26 Gebäudestrukturen, Werbezeichen und öffentlichen Kunstwerken zusammengestellt, aus der Anwohner, Passanten und Touristen im Internet die „aufregendsten und wichtigsten“ auswählen können. Denn der Times Square ist ein Platz der Bilder. 40 Millionen Individuen besuchen die Straßenkreuzung jedes Jahr und machen – nach Schätzungen der Firma Kodak – mehr als 100 Millionen Fotos.

Auch im Film „King Kong“ sind die Lichterketten und Neonschilder essenzieller Teil der Times-Square-Kulisse, das rote und gelbe Licht der Vaudeville-Theater und Spielsalons, das die Luft über der verschneiten Straßenkreuzung zum Flimmern bringt wie an einem heißen Sommertag. Das „lebende Feuer“ (Eigenwerbung), das von dem Pariser Chemiker Georges Claude 1910 in eine Glasröhre gebannt und patentiert wurde, das keine Wärme ausstrahlt, keine Schatten wirft und trotzdem Nebel durchdringt, gehörte schon in den 20er- und 30er-Jahren zum Straßenbild der Metropolen. Zum ersten Mal leuchtete 1912 in Paris der Schriftzug „La Palace Coiffeur“ in einem Schaufenster, und schnell wurde das Neonlicht zu einer wichtigen Technik der Werbung, an Bars, Lichtspielhäusern und sogar der Unterseite von Flugzeugen. Später wurde das Neonlicht zum visuellen Synonym für den Rotlichtbezirk, die Halbwelten, die von ihm rot eingefärbt wurden.

Heute blitzen im ehemaligen (Neon-)Rotlichtviertel Times Square – die Nutten und die Gangster sind längst verschwunden – riesige Flachbildschirme, machen Werbung für die New Yorker Börse, Stroboskope locken in Richtung Samsung-Store und die Investment Banker von Lehmann Brothers haben gar die ganze Fassade ihres Hauptgebäudes mit Pixeln statt mit Ziegeln verkleidet. Hier verschwindet das Building endlich hinter den Images. Im Herbst brodelte hier eine wilde Steilküste, gerade schneit es in einer Weihnachtslandschaft und in einigen Monaten wird eine Frühlingswiese den Straßenzug 24 Stunden am Tag in Sommerlicht tauchen.

Neonlicht und Reklame haben den schädlichen Ruf des Halbseidenen und Kommerziellen schon lange abgelegt. In den 70ern eröffneten in New York sogar eigene Galerien, die sich auf Lichtkunst konzentriert hatten. „Say it in Neon“ und „Let there be Neon“ hießen die Geschäfte. Und spätestens seit Andy Warhols Suppendosen-Coup weiß man ja, dass die Grenzen zwischen Kunst- und Werbeobjekt fließend sind. Der große amerikanische Architekt Robert Venturi schrieb einmal über den kulturellen Wert des Times Square: „Es wird einmal sein, dass diese Boards in Museen an den Wänden hängen werden gleich neben den Quilts, sodass wir ihre handwerkliche Schönheit verstehen werden.“

Was eine schöne Leuchtreklame ausmacht, das muss jeder selbst wissen. Ist es die größte, bunteste, lauteste und grellste Anzeige – wie es das Motto des Wettbewerbs, „Hot, Live, Design“, vermuten ließe; oder geht es abseits der Superlative eventuell um Werbung, die den Menschen nicht nur die Wahl zwischen Kauf oder Flucht lässt, sondern ihn berührt, verändert; Werbung, die vielleicht sogar um ihre eigene zweckgebundene Existenz weiß und deshalb Branchengesetze und Aufmerksamkeitsroutinen ironisch oder mitleidig bricht?

Das Angebot im Wettbewerb ist groß. Die Vielfalt auch. Die sechs Stockwerke hohe Coca-Cola-Werbung, eine digitale Leinwand, auf der unterschiedliche Motive zu sehen sind: Luftblasen, die durch braun-grüne Cola-Pampe emporsteigen; Arbeiter-Silhouetten, die schweißen, hämmern und trinken, sodass sich mancher Passant fragen mag, ob da nicht wirklich gerade hinter dem Bildschirm gearbeitet wird. Die Mini-Cooper-Werbung, in welcher die Designer von Artkraft Strauss neben einem Flachbildschirm auch nostalgische Zeichen eingebaut haben; blinkende Glühbirnen und ein rotes „XXX“, sodass die Anzeige zwar für ein, mit amerikanischen Maßstäben gemessen, jämmerlich kleines Auto Werbung macht, aber gleichzeitig auch zu einer Reflexion der Geschichte der Werbetechniken wird. Oder doch das Werbeschild für das Musical „Chicago“, ein bisschen rote Farbe auf Aluminium, das von der Jury nominiert wurde, weil es durch seinen „Lowtech-Appeal in einem Meer aus Videoschirmen besonders auffällt“.

„Das Spektrum ist unerschöpflich und faszinierend in seiner Vielfältigkeit“, notierte der Fotograf Rolf Schwarz, der in den frühen 80er-Jahren durch Amerika fuhr und die kunstvollen Licht- und Satzkonstruktionen in seinem Fotoalbum „Neon“ dokumentierte: „Deli-O – Bud – Tab – Fortune – Reader – rauchende Pfeifen – no Problem – gespitzte Lippen – Rasierklingen – girls, girls, girls – xxx – sogar: Fuck you.“ Die Konsumkultur wird auf den mittlerweile doch veralteten Bildern in einfachen Wörtern angepriesen, die für jeden das Gleiche bedeuten. Massenprodukte eben. So als wünschte sich jeder dasselbe. Aber so einfach ist das längst nicht mehr. Die Bildschirme wechseln oft das Bild, um nicht nur die Masse, sondern auch die Zielgruppen anzusprechen, und werben für Softdrinks, Software oder Bier, je nachdem, ob gerade Schulkinder, Pendler oder Clubber unterwegs sind. Schon blinken die Logos auch auf den Gehsteigen, von Beamern vor die Füße der Fußgänger geworfen. Es ist schwer, den Blick abzuwenden.

In Berlin wurde dieser Tage ein Testlauf für „Mobile Marketing“ gestartet, das dem Passanten per Bluetooth-Schnittstelle Werbung auf sein Handy lädt – diese Inhalte können durch den Zentralrechnersender mit Hilfe von am Körper getragenen Datenquellen wie etwa RFT-Chips oder Payback-Karten bald bestimmt auch personalisiert werden, sodass jeder Fußgänger zum Hauptdarsteller in seinem persönlichen Werbespot wird. Die großen Billboards am Times Square, so viel scheint sicher, sie werden uns als gnädige Giganten erscheinen.

Die Werbung am Times Square ist nicht schöner oder klüger als anderswo. Trotzdem betrachten wir sie mit anderen Standards. Während wir daheim über die billigen Leuchtschilder, Pixel-Crawls und Neonröhren in Sonnenstudios, Eisdielen und Videotheken nur lachen können, weil die bunten Farben das Biedermann-Gesicht so unzulänglich übertünchen, kommen wir nach New York, um zu staunen; erkennen in dem grotesken Funkeln des Times Square die Maßlosigkeit des amerikanischen Traums. Ganz wie es Tom Wolfe einmal über Las Vegas schrieb: „Man sieht nur Reklameschilder. Doch was für Schilder! Turmhoch ragen sie in den Himmel. Sie drehen sich und schimmern und glitzern und sind von einer solch fantastischen Vielfalt, dass alle Begriffe der Kunstgeschichte versagen.“

„Der Times Square ist ein Platz für Statements“, heißt es nüchtern bei den Veranstaltern des Design-Wettbewerbs, „gleich ob politischer, kommerzieller oder künstlerischer Natur“. An der Adresse 1567 Broadway hängt eine Anzeige, die nicht für Softdrinks oder Motoröl Werbung macht, sondern eine politische Agenda zum Leuchten bringt: „Cost of Iraq War“ steht über einer Digitalanzeige, welche die vielen hundert Milliarden Dollar zählt, die die US-Armee bereits in den Sand gesetzt hat. Die toten Soldaten und Zivilisten werden allerdings nicht gezählt. Dafür muss man den Blick nach rechts wenden, auf dem Newsticker von Reuters läuft am 5. Januar: „Suicide attacks in Iraq. Dozens killed.“

Vielleicht reißt der Newsticker mit solchen Inhalten den einen oder anderen Passanten aus seinem Shopping-Wahn. Für den Design-Wettbewerb aber ist er nicht nominiert.