Die gleiche, ganz verschiedene Welt

Das Verhältnis zwischen den Generationen zieht sich als der rote Faden durch den Episodenfilm „Lost and Found“. Regisseure aus sechs osteuropäischen Ländern vernetzten sich, unterstützt durch die im Programmbereich „Mittel- und Osteuropa“ der Bundeskulturstiftung angesiedelte Initiative „relations“

von JOCHEN SCHMIDT

Bulgarien, eine Hochzeit auf dem Land. Die Brautmutter ist nervös, als würde sie selbst verheiratet, der Vater verausgabt sich und engagiert noch eine zweite Kapelle. Am Kopfende der gedeckten Tafel der Platz für das Paar. Die Gäste treffen ein, man klopft an die Gläser, ein Hahn wird hochgehalten, alles feste Rituale. Nur das Paar fehlt.

Es wird auch nicht kommen, es ist unterwegs zu den Niagarafällen. Er ist Bulgare, sie Französin, beide leben in Amerika. Das Hochzeitsfest in der Heimat ist nur symbolisch, für die zurückgelassene Familie. Über Handy kann die Mutter verfolgen, wie die Ringe getauscht werden. „Hörst du das?“, fragt der Sohn und hält das Handy in Richtung der gigantischen Wassermassen, deren Rauschen wie das des Telefons klingt, wenn die Verbindung gestört ist, was letztlich auch der Fall ist.

In allen sechs Beiträgen von „Lost and Found“, einem Projekt junger Filmemacher aus Osteuropa, geht es um das Verhältnis zwischen den Generationen. „The ritual“ zeigt den Alltag der Region: eine Million junger Bulgaren haben das Land seit der Wende Richtung Westen verlassen, weil man statt 30 Jahre auf Besserung zu warten auch einfach dorthin gehen kann, wo die Zukunft schon stattfindet. Aber was lässt man zurück? Und was geht dem Land verloren? Die uralten Hochzeitsrituale werden nicht mehr weitervererbt.

In „Turkey Girl“ (Regie: Cristian Mungiu) muss ein Mädchen vom Land nach Bukarest reisen, um den Doktor zu bewegen, die Mutter noch einmal zu operieren. Das Geld hatten die Eltern eigentlich schon für ihre Beerdigung gespart. Ihr Freund erklärt ihr die Technik der Bestechung. Wann sie dem Wärter etwas geben muss, wie sie das Geld falten soll. Der Doktor selbst bekommt es im Umschlag, er ist ja kein Friseur. Alltag in Rumänien, eine ganz normale Fertigkeit, die man lernt, wenn man erwachsen wird.

Der bosnische Beitrag porträtiert zwei Mädchen aus Mostar, die dort beide am 9. 11. 93, also mitten im Krieg, am Tag der Zerstörung der Brücke, geboren wurden. Die Muslimin Dunja in Ostmostar im Kriegslazarett, die Katholikin Ines im Westteil. Die Stari most, die beide Teile über die Neretva verband, gehörte für die Regisseurin zu ihrer Kindheit „wie die Kaugummizigaretten und die Spitzenkragen der Schuluniformen“. Sie ist 1974 geboren und hat noch gelernt, dass die Vögel für Tito und die KP singen, während die bosnischen Kinder heute lernen, dass die Vögel singen, um Allah zu preisen. Erst verschwand die Brücke, „wie so vieles damals“, jetzt wird sie wieder eingeweiht.

Zu diesem Anlass studiert Dunja eine Gesangsaufführung ein und ihre Lehrerin ermahnt die Klasse: „Morgen fahren wir zum Festival nach Westmostar. Uns interessiert Politik nicht, seid einfach fröhlich und lächelt.“ In Ines’ Klasse geht kein bosnisches Kind, in Dunjas kein kroatisches. Für beide ist der Krieg „out“, sie wissen wenig davon. Beide mögen J-Lo, aber sie leben immer noch in verschiedenen Welten, weil die Stadt de facto geteilt ist.

Faszinierend, wie viel von der Gegenwart Serbiens in „Fabulous Vera“ (Regie: Stefan Arsenijević) in wenigen Szenen auf den Punkt gebracht wird. Eine Straßenbahnkontrolleurin, früher Stewardess, jetzt muss sie bei der Arbeit auch noch auf den dementen Onkel aufpassen, der immer mitfährt: „Gibt es Neues von den Alliierten? Sind sie schon gelandet?“ Sie sieht die Tochter, die zum Freund nach Kuba gehen will, in ihr Unglück rennen. Aber sie ist eine schlechte Ratgeberin, sie selbst ist ja auch verlassen worden.

Mit ihrer mageren Lebensbilanz konfrontiert, dreht sie durch und kapert die Bahn, findet aber dann die Bremse nicht mehr und rast mit den Fahrgästen zu den Klängen einer alten serbischen Liebesschnulze durch Novi Beograd. Am Ende muss ein kleines Wunder her, um alles gut ausgehen zu lassen.

Die Filme zeigen, welches Potenzial an Geschichten in diesen Ländern ruht, deren Kinoindustrie durch Krieg oder Wende weitgehend zerstört oder verkümmert ist. Es gibt kein großes Publikum, DVDs sind beliebter als der Kinobesuch, der nur für amerikanische Filme lohnend scheint. Der Blick geht gegen Westen, dass man sich mit seinen Nachbarn thematisch so nahe ist, wissen daher die wenigsten. Das Experiment, Künstler zu vernetzen (in der Vorbereitungen gab es Workshops, der Film wird in allen beteiligten Ländern vertrieben werden), ist also rühmlich. Nicht nur Westeuropäern, auch dem Osten selbst wird ein Blick auf den fremden Osten gewährt.

„Lost and Found – Six Glances at a Generation“. Von Stefan Arsenijević, Nadejda Koseva, Mait Laas, Kornél Mundruczó, Cristian Mungiu, Jasmila Zbanić. Bulgarien 2005