: In der Zelle statt im Kinderzimmer
AUS MANILA HILJA MÜLLER
Marvin ist 13 Jahre alt, er weiß, was er vom Leben zu halten hat. „Es ist hart, und es ist nicht gerecht“, sagt er. Seine riesige Familie lebt in einem Dorf auf Luzon, der größten philippinischen Insel. Schon vor drei Jahren ist er von dort abgehauen, weg aus der engen Hütte. Er hatte keine Lust mehr, sich mit seinen Geschwistern um das wenige Essen zu streiten.
Wie unzählige andere Filipinos hofft er auf ein besseres Leben in der Hauptstadt Manila. Seine Oma nimmt ihn auf in ihre löchrige Bude in einem Slum im Norden der Zwölf-Millionen-Metropole. Der Junge geht nicht zur Schule, keiner geht hier zur Schule. Das Geld reicht ja nicht mal zum Essen. Auf einem Markt stiehlt er Fisch, wird erwischt. Das war am 29. August, seither sitzt Marvin im Knast.
Etwas Schlimmeres kann Jugendlichen auf den Philippinen kaum passieren. Nur 209 von den 1.430 Gefängnissen des südostasiatischen Inselstaates haben extra Zellen für Minderjährige. Und sämtliche Gefängnisse sind völlig überfüllt und verdreckt, die Gewaltbereitschaft der Insassen ist groß. Wo das Gesetz des Stärkeren herrscht, ziehen Jugendliche einfach den Kürzeren. Ihre Körper werden dünner und anfälliger für Krankheiten, die Seele bekommt einen Knacks fürs Leben. Manche werden sexuell missbraucht oder erniedrigt. Knallt hinter ihnen die Zellentür ins Schloss, endet die Kindheit.
Und das kann verdammt früh sein: Auf den Philippinen sind Kinder ab neun Jahren strafmündig. Laut Gesetz müssten minderjährige Angeklagte eigentlich bis zu ihrer Verhandlung im Kinderheim ihrer jeweiligen Gemeinde wohnen. Doch für betreute Heime hat der notorisch überschuldete Staat kein Geld, also steckt man die Kinder gleich in den Knast.
Zusammengepfercht mit Mördern, Drogenhändlern und Sexualverbrechern warten sie oft Monate auf ihre Verhandlung. Nach offiziellen staatlichen Angaben saßen im Herbst 2005 4.134 Jugendliche hinter Gittern, fast alle sind Jungen. Die philippinische Sektion der Menschenrechtsorganisation amnesty international schätzt hingegen, dass jährlich mehr als 10.000 Minderjährige rechtswidrig eingesperrt werden.
Marvin ist solch ein Fall. Immerhin hat er den „Luxus“, seine Zelle im Malabon City Jail nur mit Minderjährigen zu teilen. Doch jeder Schweinestall in Europa sieht besser aus als dieser Verhau. Auf 30 Quadratmetern hocken hier 33 Jungen im Dreck. Hinter einem grünen Plastikvorhang stinkt das Klo vor sich hin, ein Wassereimer muss allen zum Waschen reichen. Es gibt keinen Stuhl, keinen Tisch, kein Bett. Geschlafen wird auf dem Betonboden, nur die Starken haben einen leeren Sack als Unterlage ergattert. Sie sitzen direkt vor dem Mini-Fernseher, der den ganzen Tag plärrt. „Das ist ihre einzige Ablenkung. Ohne den Fernseher würden die Jungs sich noch öfter prügeln“, sagt die Gefängniswärterin. Unterricht im Knast gibt es nicht, und Besuch kommt nur ganz selten. „Die Jungs stammen fast alle aus kaputten Familien“, erklärt die Aufseherin, „oder die Eltern schämen sich dafür, dass ihr Sohn im Gefängnis ist.“
Die meisten Kids sitzen wegen kleiner Delikte hier: Essen gestohlen, Kleber geschnüffelt, auf der Straße gehaust. Keiner von Marvins Mithäftlingen hat die Schule beendet, alle stammen sie aus armen Familien. Arm sein heißt auf den Philippinen, dass eine Familie mit weniger als einem Euro pro Tag auszukommen hat. Mehr als ein Drittel der etwa 84 Millionen Filipinos müssen so leben. Kinderreichtum gilt in dem streng katholischen Land nach wie vor als Gottes Segen, tatsächlich ist es für die Armen ein Fluch. Während für kleinere Kinder die letzten Pesos zusammengekratzt werden, sind ihre älteren Geschwister oft nur Ballast. Sie verdienen noch kein Geld, sie kosten nur. Viele rennen weg – wie Marvin –, die ausgelaugten Eltern suchen nicht nach ihnen.
„Es ist ein Teufelskreis, kaum zu durchbrechen“, sagt Jackie Agunyon. Die Sozialarbeiterin ist heute für die Kinderschutzorganisation Preda (People’s Recovery Empowerment Development Assistence) hier im City Jail im Einsatz. Sie besucht regelmäßig Gefängnisse in Manila, und manchmal schafft sie es, Kinder herauszuholen. „Wir müssen versprechen, ihre Unterbringung und ihr Erscheinen vor Gericht zu gewährleisten, das war’s in der Regel“, schildert sie die Bedingungen, damit Preda ein Kind mitnehmen kann.
Marvin ist der Jüngste in der Zelle, er kommt ganz oben auf Jackies Liste. Lässt der Richter ihn nicht ins Preda-Heim, muss er weiter auf unbestimmte Zeit im Knast auf seine Verhandlung warten. Für ein Vergehen, auf das eigentlich nur wenige Tage Haft stünden. Schnelle Verfahren gibt es auf den Philippinen nicht, die Justiz ist personell und finanziell denkbar schlecht ausgestattet. Im ganzen Stadtteil Malabon etwa gibt es nur einen Richter, für jugendliche Angeklagte hat er alle drei Monate Zeit. Platzt dieser Termin, sitzen die Jungs eben ein Vierteljahr länger. Kein einziger in Marvins Zelle ist verurteilt, zwei sind schon seit März 2004 hier.
„Das ist die Art von Justiz, die wir haben. Einfach abstoßend“, regt sich die Wärterin auf. Sie wacht über die „Kinderzelle“, damit die Jungs trotz offener Türen nicht zur leichten Beute der fünfhundert hart gesottenen Kriminellen werden, die hier einsitzen. „Die suchen Sexopfer oder heuern die Jungs als Drogendealer an“, meint die resolute Frau. Ihre größte Sorge aber ist das spärliche Essen. Pro Insassen gibt es vom Staat nur 35 Pesos am Tag, das sind knapp 50 Cent. „Das reicht gerade für drei Teller Reis und ab und zu mal einen kleinen Fisch.“
Einige Kids sind selbst über so wenig froh. „Ich leb’ sonst auf der Straße“, erzählt einer, „da hab’ ich höchstens einmal am Tag was zu essen gehabt.“ Marvin spricht fast gar nicht. Und wenn doch, schaut er auf den Boden. Sein dünner Körper steckt in einem viel zu großen roten T-Shirt. Als Jackie ihm erzählt, dass sie ihn hier rausholen will, betrachtet er teilnahmslos seine dreckigen Füße. Ein Dreizehnjähriger, der verlernt hat zu hoffen.
Darwin ist auch so ein Fall. Der zwölfjährige Junge sitzt seit knapp drei Monaten im Stadtteil Taguig im Knast. Er soll eine Achtjährige vergewaltigt haben. In der schlauchartigen Zelle hier dünsten 19 junge Körper in der Mittagshitze. Darwin ist der Jüngste und darf deshalb heute ins Preda-Heim umziehen. Doch als er die Neuigkeit hört, schüttelt er entsetzt den Kopf und versucht sich zu verkriechen. Joan Conanan, die Preda- Mitarbeiterin, ist nicht überrascht von seinem Verhalten: „Er hat Angst, das ist oft so. Die Jungs haben in ihrem Leben ja noch nichts Gutes erfahren.“
Geduldig erklärt sie den Jungs, dass Preda nichts mit der Regierung zu tun hat. Dass es eine Organisation ist, die sich um Straßenkinder, prostituierte Mädchen und junge Straftäter kümmert. Und dass sie ein Heim haben in Olongapo City, nördlich von Manila, in dem die Jugendlichen wohnen können und betreut werden. Der 16-jährige Zellenboss Romualdo, den alle „Major“ nennen, kapiert schnell. Ein Kumpel, der schreiben kann, listet die Namen aller Jungs und ihre Straftaten auf. Joan steckt den Zettel ein, verspricht aber nichts. „Wir können nicht allen helfen“, stellt sie klar.
Aber vielen hat Preda schon geholfen seit der Gründung 1974, bereits zweimal war die Gruppe für den Friedensnobelpreis nominiert. Initiator ist der irische Priester Shay Cullen, der längst auch international einen Namen hat. Mit der Aktion „Free the Child – Change the System“ hat er den US-Kongress und die Vereinten Nationen auf die illegalen Praktiken des Inselstaates aufmerksam gemacht. „Die Philippinen brechen internationale Menschenrechte und ihre eigenen Gesetze dazu“, zürnt Cullen. Das wenige Geld, das der Staat für Kinderheime habe, verschwinde zudem oft in falschen Taschen, sagt Randy Manija vom Aktionsteam. „Gerade lokale Politiker scheren sich nicht um die Kinder.“
Darwin ist das alles egal. Er kauert nach seiner ersten Nacht bei Preda verloren auf einem Sofa. Auf Fragen will er erst nicht antworten, dann fängt der schmächtige 12-Jährige zu weinen an. „Ich vermisse meine Familie so“, druckst er. Doch bevor er dahin vielleicht zurückkann, muss er seinen Prozess hinter sich bringen. Bis dahin bekommt Darwin Unterricht, kann sich beim Basketball austoben und, wenn er so weit ist, in der so genannten Gummizelle brüllen, einem Raum, wo die Kinder heulen und trauern können, um ihre traumatischen Knasterlebnisse zu verarbeiten. Seit Februar 2004 hat Preda mehr als 150 Jugendliche befreit, das Konzept scheint aufzugehen. „Bisher ist jedenfalls noch keiner abgehauen“, freut sich Manija, „und nur zwei Jungs sind rückfällig geworden.“
Doch Preda braucht mehr Platz: 25 Kinder und Jugendliche können im Haus wohnen, derzeit sind es 54. „Wir haben bei der Gemeinde beantragt, ein leer stehendes Gebäude nutzen zu können“, sagt Shay Cullen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Man brauche das Gelände, um Dienstautos unterzustellen, ließ der Bürgermeister ausrichten.