: Verständnis für den Zappelphilipp
In der Fortbildung zur „Kreativen ADS/ADHS-Beraterin“ lernen ErzieherInnen, LehrerInnen und SozialpädagogInnen, sich in die psychische Situation von hyperaktiven Kindern zu versetzen – und ihnen das nötige Selbstwertgefühl zu vermitteln
VON LUTZ DEBUS
„Sie hasten durch die Gänge eines Supermarktes. Es ist kurz vor acht. Sie brauchen noch dringend Zutaten für das Abendessen. Doch alles ist ausverkauft.“ Der Seminarleiter macht den TeilnehmerInnen der Fortbildung richtig Stress. Die versammelten ErzieherInnen, LehrerInnen, LogopädInnen, PsychologInnen und SozialarbeiterInnen rennen kreuz und quer durch den freundlichen, lichtdurchfluteten Raum. Mancher greift nach imaginären Dosen. Einige stoßen fast zusammen. Nach wenigen Minuten sitzt die Gruppe erschöpft im Kreis: „Das war ja furchtbar.“ – „Jetzt weiß ich erst, wie es meinem hyperaktiven Schüler geht.“
Die einjährige berufsbegleitende Fortbildung zur „Kreativen ADS/ADHS-Beraterin“ beginnt nicht mit langen einführenden Vorträgen. Wie in der ganzen Seminarreihe steht auch am Anfang das unmittelbare Erleben im Vordergrund. Und tatsächlich: Nachdem sich die Teilnehmenden in die Erlebniswelt eines hyperaktiven Kindes versetzt haben, konnten sie für dessen Situation auch gleich mehr Verständnis entwickeln.
Viele Menschen, die mit solchen Kindern arbeiten, so Ausbildungsleiter Udo Baer, sind mit ihrem Latein am Ende. Vor drei Jahren bot sein Fortbildungsinstitut „Zukunftswerkstatt therapie kreativ“ im niederrheinischen Neukirchen-Vluyn das erste Mal Seminare zur Arbeit mit hyperaktiven Kindern an. Binnen kurzer Zeit waren alle Gruppen ausgebucht. Die Ratlosigkeit der KollegInnen, so Baer, sei groß. Und eben der Wunsch, etwas Neues zu probieren.
Den berühmten „Zappelphilipp“ kannte natürlich schon Wilhelm Busch. Aber heute gibt des immer mehr Kinder, die fortwährend zappeln, fahrig und hektisch agieren, ständig neues anfangen ohne das alte zu beenden. Und es gibt Kinder, die verstummt sind, unansprechbar, apathisch. Die Fachwelt hat hierfür zwei Abkürzungen gefunden. ADHS heißt Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. ADS meint schlicht Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Das Grundgefühl dieser Kinder, so Baer, sei: „Ich bin falsch.“ Wenn dann eine Fachkraft versucht, an diesem Kind herum zu doktern, dann sei das Wasser auf die Mühlen jener Störung. Da helfe ein Schritt zur Seite. Gerade mit künstlerischen Medien könne ein erster Kontakt geknüpft werden, vermittelt werden: „Ich bin richtig.“
Wieder im Seminarraum: Eine 43-jährige Lehrerin schlüpft in die Rolle des Mädchens, das ihr im Schulalltag den meisten Kummer macht. Sie ist nun Marie und acht Jahre alt. Sagt kein Wort. Guckt niemanden an. Die Ergotherapeutin, die ebenfalls Fortbildungsteilnehmerin ist, übernimmt die Rolle der Lehrerin. Simulation heißt diese Arbeitsweise. Marie nestelt an ihren Fingern herum. Da gibt ihr ihre Lehrerin eine Kalimba, ein afrikanisches Daumenklavier. Blechstreifen sind auf eine Holzkiste genagelt. Die Bewegungen der Finger bleiben die gleichen. Aber es ertönt eine Melodie. Zart, einsam, traurig. Nach kurzer Zeit sind beide Frauen angerührt.
Natürlich, so Baer, wird sich diese Ausbildungssituation in der Berufspraxis nicht genau so wiederholen. Dies sei auch nicht Zweck der Simulation. Aber es werde eine Sensibilität entwickelt, verstummte oder ständig störende Kinder nicht nur als Problem, sondern als sensible und eben wertvolle Menschen zu begreifen.
Manche zunächst absonderlich wirkende Frage wird bei der Fortbildung aufgeworfen. Was geschieht, wenn hyperaktive Kinder das tun können, was sie wollen? Ein Sozialarbeiter berichtet von seinen ersten Versuchen im Kinderheim. Er fragte einen Jungen, was er denn machen wolle. „Abhauen“, bekam er zur Antwort. Später fand der Sozialarbeiter den Jungen zusammengekauert in einem Kleiderschrank. Tränenüberströmt. Verzweifelt. Statt Reglementierung und Konfrontation war plötzlich Trost angesagt. Für beide eine völlig neue Erfahrung.
Das „hyperaktive Kind“ ist seit Jahren ein Modethema. Verdient hat daran bislang vor allem die Pharmaindustrie: Die Verordnung von Psychopharmaka und Antidepressiva wie Ritalin oder Fluctin für Kinder – letzteres ist in den USA als Prozac zu zweifelhaftem Ruhm gekommen – hat sich in den letzten Jahren auch hierzulande vervielfacht. Viele im sozialen Bereich Arbeitenden, so Baer, kritisieren diese Tendenz. Alternativen zu einer rein medizinischen „Behandlung“ verhaltensauffälliger Kinder seien aber wenig verbreitet. Dabei sei die Situation für viele Betroffenen dramatisch. Ein Sozialpädagoge berichtet im Seminar von einem 9-jährigen Mädchen, das stundenlang auf seinem Fensterbrett im dritten Stockwerk saß. Gesprungen ist es dann doch nicht. Noch nicht.
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