: Lost in Mecklenburg
TEILHABE Die Bürgerzeitung „Die Aufmacher“ will Menschen aus sozial schwachen Vierteln eine Stimme geben
AUS HAGENOW UND BOIZENBURG GABRIELA M. KELLER
Hinter dem Stadtkern von Hagenow, den Fachwerkhäuschen, dem Mühlenteich, geht es in einen Kreisverkehr, und schon ist man da. Mitten im Kietz. So heißt dieses Viertel, in dem Plattenbauten stehen, die alle aussehen wie aus demselben Förmchen gestanzt. Betonklötze, eierschalfarben, vier Stockwerke hoch.
Christa Hess steht in ihrem Wohnzimmer, sie nimmt den Zettel vom Tisch, der neulich im Briefkasten lag, die Schultern gespannt vor Ärger. „Jetzt nehmen die uns auch noch den Netto weg“, ruft sie. Der größte Supermarkt im Kietz soll schließen; damit hat sie wieder ein Thema, über das sie schreiben kann.
Die Frührentnerin, 56 Jahre, wuchtet einen Stapel Zeitungen aus dem Schrank. Die Aufmacher steht vorne drauf, „Bürger berichten, was vor Ort bewegt“. Es sind immer vier Seiten, viele Fotos, kurze Texte, Kindersport, die schönsten Badestellen, illegale Müllentsorgung. Auf ihre Themen kommt Christa Hess beim Spazierengehen, am Sportplatz oder an der Grillbude, „da krieg ich immer was Neues mit“. Sie blättert hin und her, überlegt kurz und sagt: „Ich finde das wichtig. Dass die Leute, die hier leben, sich einbringen können.“
Geldgeber: das Innenministerium
Sonst haben die Menschen im Kietz keine Stimme, sie sind nicht einmal sichtbar: Das abgelegene Viertel wirkt wie herausgetrennt aus der Stadt; fast alle hier sind Hartz-IV-Empfänger oder prekär Beschäftigte.
Wer eine Weile in Mecklenburg unterwegs ist, spürt, was es bedeutet, wenn sich die Medienvielfalt auflöst. Nirgendwo gibt es zwei konkurrierende Titel: Im Norden gibt es die Ostseezeitung, im Osten den Nordkurier, hier im Westen des Landes erscheint einzig die Schweriner Volkszeitung. Die Aufmacher sind Teil eines Modellprojekts, mit dem die Medienvielfalt in solchen Regionen verbessert werden soll. Neben den Aufmachern, die seit April 2012 im Kreis Ludwigslust-Parchim erscheinen, gibt es auch in Sachsen eine Bürgerzeitung, Die Lupe. Finanziert werden beide vom Bundesinnenministerium.
„Wir wollen die Lücke füllen“, sagt Mandy Buschina vom Verein Jugendpresse, der das Projekt Bürgerzeitung ausgearbeitet hat. Staat und Presse sollen eigentlich getrennte Bereiche sein, damit die journalistische Unabhängigkeit gesichert ist. „Es geht darum, demokratische Kultur und Teilhabe zu stärken“, entgegnet Buschina. „Das können wir durch Medienvielfalt erreichen.“
Ein lichtblauer Himmel spiegelt sich im Hafenbecken von Boizenburg. Auf der Terrasse des örtlichen Restaurants sitzt der Redaktionsleiter der Aufmacher, mit Bart und großen Händen, an denen er dicke Silberringe trägt. Beluga Post, so nennt er sich. Wenn man ihn fragt, wie es hier aussieht mit der Medienvielfalt, verzieht er das Gesicht und sagt: „Ganz übel.“
Außer der einen Zeitung gibt es nur Anzeigenblätter „und die Postillen der Nazis. Unsere inoffiziellen Gegner.“ Längst bringt die NPD eigene Blätter heraus, die vorgeben, die Belange der Anwohner zur Sprache zu bringen.
Der freie Journalist hat eine Weile überlegt, ehe er die Leitung der Aufmacher annahm; anfangs fühlte er sich nicht ganz wohl mit der Vermischung von Politik und Presse. Inzwischen haben sich seine Bedenken zerstreut. Das Ministerium nehme keinerlei Einfluss auf die Inhalte, versichert Post, „bisher war alles hochfair.“
Das größte Problem seiner Mitarbeiter, sagt er, war anfangs ihr fehlendes Selbstwertgefühl. Doch dann merkte er, wie sie sich veränderten. Arbeitslose, die nach langer Zeit wieder anfingen, sich zu befassen mit der Welt, in der sie leben. „Die gehen plötzlich mit ganz anderen Augen durch ihr Viertel.“ Einige haben sich seither eigene Projekte ausgedacht, Aufräumtage, Aktionen für Kinder. Man könnte auch sagen: Es hat sich so etwas wie zivilgesellschaftliches Engagement entwickelt.
Warmes Licht liegt über dem Kietz; die Wohnblocks werfen scharfkantige Schatten auf blassgrüne Wiesen. Christa Hess läuft in kurzen Schritten die Straße herab. „Wir werden hier ein bisschen vergessen“, sagt sie, „na ja, nicht vergessen. Wir haben ja den neuen Spielplatz.“ Doch sie kriegt mit, wie die Leute aus den anderen Vierteln von Hagenow über die Anwohner reden. „Die sagen: die Asis.“
Blumen pflanzen und drüber schreiben
Dieser Tage kommen ihr öfter Einfälle, was sie tun kann, damit die Dinge etwas besser laufen. Sie hat zum Beispiel dafür gesorgt, dass die Kinder hinter ihrer Schule Blumen pflanzen. Zudem organisiert sie ein Frauencafé für allein erziehende Mütter; in den Aufmachern berichtet Hess dann über die Treffen. „Informationen geben und holen“, sagt sie, „das heißt Austausch.“
Am nördlichen Rand ähnelt Boizenburg dem Hagenower Kietz, gleichförmige Betonklötze, dazwischen stille Straßen. Samantha Krüger ist gerade aus der Schule gekommen; ihr Rucksack liegt auf dem Laminat. Die 17-Jährige ist die jüngste Mitarbeiterin der Aufmacher. Sie sagt: „Ich hab nicht gern Langeweile.“
Ihre Mutter ist arbeitslos, ihr Vater Leiharbeiter. Sie selbst wird im kommenden Jahr Abitur machen. „Das Schreiben macht Spaß. Das Schwierige ist, die Informationen zu sammeln“, sagt sie.
Samantha stört sich daran, dass es so eine Distanz gibt zwischen den Medien und ihrem Leben. „Ich finde, die bringen zu viel über große Ereignisse und zu wenig über Alltägliches“, sagt sie. Einmal hat der NDR über ein Projekt gegen Rassismus an ihrer Schule berichtet. Sie hat den Beitrag hinterher online angesehen. „Der dauerte gerade eine Minute“, sie klingt noch heute enttäuscht. „Wir schreiben über Dinge, die die Leute interessieren“, sagt sie, „weil sie hier passieren.“
Christa Hess stapft vorbei am Konsum in Richtung der Schule. Krokusse liegen im Gras wie bunte Farbspritzer. Die Blumen, die auf ihre Initiative gepflanzt wurden. „Liebe Kinder, das habt ihr richtig gut gemacht“, schrieb sie danach in den Aufmachern.
Die Berichterstattung klingt kleinteilig, doch diese Dinge spielen hier eine Rolle. Vor allem aber geht es darum, dass die Mitarbeiter lernen, erste Schritte zu tun: Meinungen zu entwickeln und sich mitzuteilen. Allmählich traut sich Hess aber auch härtere Themen zu; bald will sie über Neonazis schreiben. „Ich kenne einige, die sprech ich dann an“, sagt sie. Es wird Zeit; sie dreht sich um. Ihre schmale Gestalt wird zwischen den Plattenbauten kleiner und kleiner.
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