Ich kann nicht mehr!

Affektive Störung oder zerebrale Dysfunktion, Zeitgeistkrankheit oder kodifiziertes Chaos: Was ist eine Depression, und wie wird sie behandelt?

von MARTIN REICHERT

Sich mit Depressionen auseinander zu setzen bedeutet, in einen gähnenden Abgrund zu schauen. Doch der Abgrund starrt nicht zurück, das wahre Gesicht der Depression ist nicht zu erkennen zwischen all den Diagnosen und Therapieansätzen, Symptomen und Klassifikationen, klar ist nur, dass es im Wesentlichen um das menschliche Leid an sich geht. Das Wort „Depression“ leitet sich vom lateinischen deprimere ab, was etwa „niederdrücken“ bedeutet: Warum kommen Menschen an einen Punkt, an dem sie nicht mehr weiterkönnen, womöglich ihrem Leben ein Ende setzen? Und wie kann ihnen geholfen werden? Statt sich angesichts eines solch komplexen Themas selbst in den Abgrund zu stürzen, ist es zunächst hilfreich, sich innerlich locker und leicht zu machen: Von der Vogelperspektive aus betrachtet, sieht das Ganze schon anders aus.

Bereits in der Antike wussten die Mediziner von der anhaltenden Freudlosigkeit mancher Zeitgenossen, so auch der griechische Arzt Hippokrates, der von einer Frau berichtete, deren „Gemüt durch plötzlichen Grund zur Sorge in Melancholie gefallen war“. Die Melancholie, Urgroßmutter der heutigen Depression, ist eine sehr alte Krankheit, in unserer Zeit feiert sie lediglich fröhliche Urständ: Sie ist en vogue, eine Volks- und Massenkrankheit, an der ganze Nationen erkranken, Deutschland zum Beispiel. Melancholie bedeutet ursprünglich „schwarze Galle“, ein bitterer Schleim, der das Leben erschwert, der aber angeblich auch zu herausragenden Leistungen in Kunst und Kultur befähigen kann. Im Jahr 2004 wiederum attestierten Psychologen der Greifswalder Universität dem bedeutendsten Maler der Deutschen Romantik, Caspar David Friedrich, posthum eine „unipolare Depression“.

Einsame Mönche am Meer malen zum Zwecke der Selbsttherapie? Ausreichend krankenversicherte Menschen gebären heute keine Musik mehr aus dem Geist der Tragödie, sie machen eine kognitive Verhaltenstherapie und/oder schlucken Antidepressiva verschiedenster Couleur mit Namen wie Fluoxetin, Citalopram, Amitriptylin oder Moclobemid – medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung gehen heute, nach jahrzehntelangen Grabenkämpfen, einigermaßen Hand in Hand.

Von der Melancholie, die für Michelangelo noch eine „gute Freundin“ war, bis zum heute aktuellen WHO-Klassifikationssystem ICD-10, das alle Depressionen, Manien, Dysthymien und Zyklothymien unter dem Begriff der affektiven Störungen zusammenfasst, war es ein weiter und komplizierter Weg, wenn sich auch manche Dinge nicht geändert haben. Zum einen weiß man immer noch nichts wirklich Genaues über die tatsächliche Ursache der Depression und begnügt sich mit einem multikausalen Strauß von Erklärungen, zum anderen ist und bleibt der Mensch ein leidendes Tier.

Versuchte man es im Spätmittelalter mit einem glühenden Eisen am Hinterkopf, so benutzt man auch heute noch – durchaus mit Erfolg übrigens – die 1935 eingeführte Elektrokrampftherapie (EKT), wenn alle Medikamente versagen: ein Dauerbrenner sozusagen, wenngleich die neuere Forschung mit immer neuen Erklärungsansätzen aufzuwarten weiß: Zu viel Stress beziehungsweise die erhöhte Ausschüttung des Stresshormons Kortisol soll einen störenden Einfluss auf die Produktion des wichtigen Hirnbotenstoffs Serotonin bewirken und somit Depressionen auslösen – alles chemisch also.

Das „Depressionsgen“ wurde noch nicht entdeckt, gleichwohl hat man bei Depressiven eine relevant häufige Mutation auf dem Gen 5-HTT entdeckt. Eine Erkrankung kann sowohl an Lichtmangel liegen (Lichthypothese) wie an Hormonstörungen, an der Schilddrüse oder am Schwermetall aus der Zahnfüllung; am Alter oder an der Jugend, an der pathologischen Familienkonstellation oder der pathologischen Freiheit des Single-Daseins.

Einigkeit besteht, immerhin, was die Symptomatik der Depression angeht, deren Hauptgesundheitsrisiko sozusagen im Suizid besteht: Die Betroffenen fallen in eine „Affektstarre“, sind durchgehend freudlos und gedrückter Stimmung. Sie leiden unter einem Gefühl der inneren Versteinerung, einem „Gefühl der Gefühllosigkeit“ – es fließen nicht einmal mehr Tränen. Stattdessen steigern sich die Gemarterten in nicht nachvollziehbare Schuldgefühle und Selbstvorwürfe hinein, sind plötzlich vom Wahn besessen, ruiniert zu sein oder an einer unheilbaren Krankheit zu leiden. Ausgesprochen typisch auch: Schlafstörungen sowie Stimmungsschwankungen während des Tages, die mit einem Morgentief beginnen und mit einer Stimmungsaufhellung gegen Abend enden. Leitsatz: „Das hat doch alles keinen Sinn.“

Normal? Kennt jeder? Hat doch jeder? Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat sich dem Modethema Depression diskursanalytisch genähert und ist auf eine Art kodifiziertes Chaos gestoßen – Mediziner und Psychologen wissen gar nicht genau, was sie behandeln, und bemühen sich umso wackerer, das menschliche Elend Bibliotheken füllend zu beschreiben. „Das erschöpfte Selbst“, in Frankreich bereits 1998 veröffentlicht, erschien vor zwei Jahren in der Schriftenreihe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung auf Deutsch und zeichnet nach, wie der mentale Erschöpfungszustand im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Massenerkrankung wurde. Ehrenberg kommt im Anschluss an Foucaults „Überwachen und Strafen“ zu dem Schluss, dass die Depression die Krankheit einer Gesellschaft sei, „deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative“. Mit anderen Worten: Der moderne Mensch ist dem „Anything goes“ einfach nicht gewachsen und verfällt angesichts zu vieler Optionen der schier unmöglichen Anforderung, „man selbst“ zu werden, in eine Angststarre. Die deutsche Depression wäre dem entsprechend eine natürliche Reaktion auf die „Herausforderung“ der Globalisierung.

Ehrenbergs Geschichte beginnt um 1900, am vorläufigen Höhepunkt des Zeitalters der Verwissenschaftlichung und Medizinisierung: Irrenhäuser werden zu Krankenhäusern, die Melancholie wird von der Neurasthenie abgelöst. Ehrenberg konzentriert sich zunächst auf die für ihn zentralen Figuren Sigmund Freud und den Arzt Pierre Janet (1859–1947). Während Freud sich des Subjekts und seiner individuellen Seelengeschichte auf der Couch annimmt, kümmert sich Janet um den Körper, den er instand setzen will: Janet sieht sich als Mechaniker, der den kranken Körper reparieren möchte, auf dass er sein Funktionsniveau möglichst bald wieder erreiche. Freud sieht sich als jemand, der Hilfestellung leistet, das eigene Glück zu finden. Glaubt man Ehrenberg, hat Freud allerdings verloren, sein Subjekt ist unter die breiten Reifen der kapitalistischen Medizin- und Pharmaindustrie gekommen, in deren Abhängigkeit es sich stattdessen begeben hat: „Der Erfolg der Depression beruht auf dem verlorenen Bezug auf den Konflikt, auf dem der Begriff des Subjekts basiert.“

Neuroleptika wurden ab 1952 eingesetzt, trizyklische Antidepressiva bereits ab 1957, deren neuere Generation, bekannt geworden unter dem Produktnamen Prozac (heute: Fluctin), zwar erst seit Anfang der 90er, dafür aber gleich richtig: Der Wirkstoff kann mittlerweile im britischen und amerikanischen Trinkwasser nachgewiesen werden. Ihr Einsatz geht von der Erkenntnis aus, dass der Mensch im Prinzip elektrisch funktioniert. Man vermutet, dass im Falle einer Depression der Haushalt der zentralen Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin gestört ist, und versucht chemisch einzugreifen. Die so genannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer“ (SSRI) – die Prozac-Generation der Antidepressiva – wirken an den Synapsen, den Verbindungen zwischen zwei Nervenzellen, indem sie verhindern, dass bei der Datenübertragung zu viel ausgeschüttetes Serotonin in die vorgeschaltete Zelle zurückgesaugt wird. Im Ergebnis steht dem Körper mehr Serotonin zu Verfügung, mehr Saft für die Datenübertragung. Alle auf dem Markt verfügbaren Medikamente, seien es die neuesten Monoaminooxidasehemmer (MAO-Hemmer, etwa Moclobemid oder Selegilin) oder Noradrenalin-Serotonin-selektive Antidepressive (NaSSA, Wirkstoff Mirtazapin) wirken in der ein oder anderen Form auf den Botenstoffhaushalt des menschlichen Gehirns ein.

Die Medikamentenkeule hat einen schlechten Ruf, denn sie riecht nach Psychiatrie: Angstschweiß, Zigaretten und literweise Kaffee, „Medikamentenausgabe“ – wie in „Einer flog über das Kuckucksnest“. In der Tat jedoch bleiben Wirksamkeit und Schäden der Antidepressiva weiterhin unklar – trotz gegenteiliger Propaganda von Ärzten und Pharmaindustrie. Vor zwei Jahren geriet in den USA, dem Prozac-Mutterland, die Verschreibung antidepressiv wirkender Medikamente für Kinder und Jugendliche in die Schlagzeilen, weil sie erneut in den Ruf geraten waren, ausgerechnet Selbstmordgedanken hervorzurufen – also zu verursachen, was sie eigentlich verhindern sollen. Amir Raz, renommierter Kinder- und Jugendpsychiater an der New Yorker Columbia Universität, hatte in der Zeitschrift PloS Medicine zudem darauf hingewiesen, dass die Wirksamkeit der SSRI systematisch überschätzt und die unerwünschten Nebenwirkungen im Gegenzug heruntergespielt würden. Auch jenseits der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird in den USA immer lauter die Wirksamkeit der SSRIs angezweifelt. So haben Studien ergeben, dass etwa 70 bis 90 Prozent der SSRI-Wirkung auch durch Placebos erreichbar ist.

Während sich in Deutschland mit einiger Verspätung der ideologische Grabenkampf zwischen Chemie und Psychotherapie zugunsten eines Kompromisses einzuebnen scheint, regt sich in den USA und Großbritannien Widerstand gegen den dort üblichen überbordenden Einsatz der medikamentösen Therapie. Irving Kirsch von der University of Plymouth, David Antonuccio von der Nevada School of Medicine in Reno, Joanna Moncrieff vom University College London sowie David Healy von der McGill-Universität in Bangor/Wales bilden nur die glamouröse Spitze eines Eisberges mit der Botschaft: „So geht es nicht weiter.“

Der Hamburger Arzt Klaus Dörner spottete einst im Spiegel, dass es wahrhaftig „keinen Mangel an Theorien gibt, nach denen fast alle Menschen nicht gesund sind“. So geistern seit Jahren Zahlen durch Deutschland, nach denen hierzulande derzeit 4 Millionen Patienten von einer Depression betroffen seien, ganz abgesehen von der angeblich hohen „Dunkelziffer“ – deren argumentative Kraft eben darin besteht, empirisch im Dunklen zu verbleiben. Mit der Behandlung von Depressionen wird sehr viel Geld verdient, es fließt nicht nur in die Kassen der Pharmaindustrie, sondern auch in die von Ärzten, Therapeuten und medizinischem Personal. Und die Zahl der seelischen Leiden wird immer größer: Im Katalog der amerikanischen Veteran’s Administration waren nach dem Zweiten Weltkrieg gerade mal 26 Störungen aufgelistet, das jetzt gültige „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ der Vereinigung der amerikanischen Psychiater zählt bereits 395 verschiedene Leiden auf.

Aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch gibt es über 6 Milliarden verschiedene Leidensmuster auf der Welt, nämlich so viele, wie es Menschen gibt. Jeder von uns trägt seine eigene Geschichte mit sich herum, seine eigene Depression in sich, die jederzeit zum Ausbruch gelangen kann. Man muss uns helfen.

MARTIN REICHERT, 32, ist Autor für taz zwei und taz. mag