: Beseelung durch Melodie
Großer Tourneestart von Depeche Mode: Haben die Songs dieser Band schon immer weniger die Gefahr beschworen, mit der Wucht der Wirklichkeit nicht klarzukommen, als vielmehr deren Abwehr?
VON SUSANNE MESSMER
Ausgerechnet Dresden. Dass Depeche Mode ausgerechnet in Dresden ihren Auftakt zur Europatournee feierten: das zeigte, wie sehr diese Band inzwischen weiß, wer sie ist. Schon am frühen Nachmittag vorm Konzert hörte man in vielen Cafés und Plattenläden den einen und anderen Song. Man betrat sogar zwei Devotionalienläden für Piercings, Silberschmuck und schwarze Gewänder und hörte Depeche Mode im Hintergrund. Man sah in die traurigen Telleraugen zahlreicher Verkäuferinnen und Kellnerinnen und ließ sich wieder und wieder sagen: Nicht nur in Dresden, sondern alle Hallenkonzerte der Band in Deutschland waren zu schnell ausverkauft. Für Karten auf dem Schwarzmarkt musste man zuletzt 200 Euro hinblättern. Außerdem waren 2.000 gefälschte Karten im Umlauf.
Möglich, dass Dresden neben Leipzig die Stadt mit den meisten Fans der britischen Megaband ist. Möglich, dass es Dark Wave oder Gothic ohne den Mauerfall heute gar nicht mehr geben würde. Möglich auch, dass Depeche Mode in Deutschland heute nicht mehr so kultisch verehrt würden, dass es zumindest nicht mehr so viele Depeche-Mode-Partys geben würde – diese seltsamen Zusammenkünfte, wo es Tauschbörsen und Karaoke gibt und wo die Familie immer wieder den besten Dave-Dancer kürt, den Fan, der sich am ehesten so kleidet, am ehesten so frisiert und am ehesten so bewegt wie Dave Gahan, der Sänger, das Image, die Exekutive der Band.
Neongreller Eingang
Nach der Ankunft in der Dresdner Messehalle, die mehr als 10.000 Zuschauer fasst, war man dann aber doch erstaunt. Es schien, als sei die Zeit der Lookalikes vorbei – der Fans, die noch bis vor kurzem weiße Jeans trugen und hochgekrempelte Hemdsärmel, so wie Hinterwäldler Dave zu Beginn seiner Karriere vor ganz genau 25 Jahren. Ziemlich normale, aufgeräumt wirkende Dreißig- bis Vierzigjährige wurden da im neongrellen Eingangsbereich der Halle verköstigt – mit Rostbratwurst und Bier, Pizza und Met, Chinapfanne und Haribo. Die Leute waren zwar etwas dunkler angezogen als der Durchschnitt der bundesdeutschen Bevölkerung, im Großen und Ganzen schienen sie jedoch mit ihrer Band auf dem Boden angekommen und stilsicher geworden zu sein.
Das Konzert war dann allerdings ein wenig abstrakt. Wahrscheinlich raste Dave Gahan wie immer von Bühnenrand zu Bühnenrand, schwitzte viel und zog sich erst die Weste und dann das Hemd aus. Aufgrund eines hellen Flecks links außen konnte man auch davon ausgehen, dass Martin Gore anwesend war, der mit den blonden Locken, der in der Regel die Songs schreibt und auch etwas von Soul versteht. Da waren außerdem eine Art Bordcomputer und silberne Kanzeln: die Bühne als Schaltzentrale dekoriert. Mit Sicherheit konnte man das alles aber nur auf den großen Leinwänden erkennen.
Man wanderte von vorne links nach hinten rechts, von hinten quer durch die Mitte und einmal sogar ziemlich weit nach vorn: Es half nichts. Außer auf den Leinwänden war so gut wie nichts zu sehen, die Akustik war schlecht, die Halle zu lang und zu breit. Und wie schon beim letzten Konzert vor fast fünf Jahren konnte man sich als Fan der fast ersten Stunde wieder einmal darüber wundern, wie gigantisch Depeche Mode geworden sind und dass sie andere, die mit ihnen angefangen haben, Synthie-Popper wie Spandau Ballet oder Soft Cell zum Beispiel, derart mühelos abgehängt haben. Wie kommt es, dass sich eine Band so tief in den Mainstream buddeln konnte, bei der es vom ersten Album 1981 bis zum aktuellen „Playing the Angel“ im letzten Herbst hauptsächlich um katholischen Kitsch und Blasphemie, um Schmerz und Sex, um Schuld und Sühne, um Rache und um Reue geht?
Vielleicht liegt es daran, dass Depeche Mode trotzdem nie wirklich die Gefahr selbst beschworen haben, sondern eher ihre Abwehr. Schon immer haben sie weniger Musik für die Massen gemacht als Musik für eine Mittelschicht, die nicht richtig klarkommt mit der Wucht der Wirklichkeit. Deshalb funktioniert die Band auch bis heute besser im Ausland als in England – und besser im Osten. Es geht um die Beseelung des urbanen Fortschrittglaubens durch Melodie, Nostalgie, Religion und Reaktion. Das zeigten sämtliche Songs, die Depeche Mode spielten: Die Alten wie „Everything Counts“ (1983) und „A Question of Time“ (1986) und durchaus tolle, aber auch allzu werktreue Hits wie „Precious“ oder „Damaged People“ vom neuen Album.
Überwindung der Sucht
Man war schon nahe daran, sich von Songs wie diesen einwickeln zu lassen, da fiel einem auch wieder ein, wie konservativ das alles ja auch ist. Man redete sich zu: Vielleicht sind Depeche Mode ja so sicherheitssüchtig geworden, weil die Orkane, durch die sie mussten, besonders tosend waren – zuerst die Überwindung der Drogensucht, zuletzt die der alten Hierarchien innerhalb der Band und so weiter.
Trotzdem wünschte man sich, Depeche Mode würden sich weiter aus dem Fenster hängen. Man dachte an Konzerte wie das von David Bowie, als er in Berlin eine seiner experimentellsten Platten von vorne bis hinten durchspielte, man dachte an Konzerte wie das von The Cure, als sie gleich drei Alben in chronologischer Reihenfolge zur Aufführung brachten. Und man hoffte vergebens auf einen Moment, in dem Depeche Mode nicht wussten, wohin sie gehörten – auf einen einzigen Song, mit dem man nicht gerechnet hatte.