: Diesseits von rechts und links
Bei allem Pragmatismus: Hinter den Kulissen der großen Koalition erinnert die politische Stimmung an das gesellschaftliche Klima während der ersten Industrialisierung. Damals bildeten sich die politischen Lager heraus – heute kann man immer noch nicht auf sie verzichten. Ganz im Gegenteil
VON NORBERT NIEMANN
Ich erinnere mich noch gut an die Zeit vor etwa zehn Jahren, als man die Frage „Was ist links?“ rege diskutiert hat. Damals wurde überlegt, ob man den Begriff nicht besser gleich mit dem real existierenden Sozialismus begraben sollte. Man glaubte in einer Epoche jenseits der Ideologien angekommen zu sein. Es war auch die Zeit, in der das Wort von der Neuen Mitte aufkam, von dem mittlerweile keiner mehr weiß, was es eigentlich bedeutet. Ich schrieb kritische Essays über den Medienkapitalismus, darüber dass die Massenmedien von den Wirtschaftskonzernen zusehends als subtile Propagandamaschinen genutzt wurden und so die politischen Institutionen der Demokratie unterliefen. Ich habe die Stimmen noch im Ohr, die mir dringend empfahlen, auf Begriffe wie Kapitalismus künftig zu verzichten, wenn ich mich nicht lächerlich machen wolle.
Heute wird „Kapitalismus“ wieder ohne Scheu und sogar von CDU-Politikern ausgesprochen, auch die Linkspartei wäre noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen. Inzwischen signalisiert „links“ fast schon wieder Widerständigkeit gegen die berüchtigte Durchökonomisierung der Gesellschaft. Nach eineinhalb Dekaden eines globalen Wirtschaftsliberalismus ist der totgesagte Begriff „links“ wieder auferstanden als dessen Gegenpart. Was genau bedeutet er?
Vor zehn Jahren, daran erinnere ich mich ebenfalls, war ich selber unsicher geworden über den Sinn einer Unterscheidung zwischen links und rechts. War die Realität in Zeiten der Globalisierung nicht zu komplex geworden für simple Schwarz-weiß-Muster? Ein schmales Buch des inzwischen verstorbenen italienischen Rechtsphilosophen Norberto Bobbio mit dem Titel „Rechts und links“, das sich genau mit dieser neuen Unsicherheit beschäftigte, half mir, wieder eine klare Vorstellung zu bekommen davon, was links und was rechts ist.
Bobbio vertritt die Auffassung, dass sich politische Standpunkte auch nach dem Scheitern des Kommunismus in der historisch bewährten Art sinnvoll voneinander trennen lassen: „Das am häufigsten zur Unterscheidung von rechts und links angewandte Kriterium ist das der unterschiedlichen Haltung, die die in einer Gesellschaft lebenden Menschen im Hinblick auf das Ideal der Gleichheit einnehmen, das, zusammen mit dem Ideal der Freiheit und dem des Friedens, eines der höchsten Ziele ist, das sie anstreben und wofür sie bereit wären zu kämpfen.“ Freilich sind Menschen untereinander ebenso gleich, wie sie ungleich sind. Aber die subtile Entscheidung darüber, wofür man sich vorrangig einsetzt, hängt ab von dem, was man vorrangig beobachtet.
Philosophiegeschichtlich steht der These Rousseaus, dass (soziale) Ungleichheit aus der Entfremdung durch Arbeitsteilung entstanden ist, die These Nietzsches gegenüber, dass Gleichheit die (natürliche) Ungleichheit individueller Begabung zerstöre. Für Ungleichheit eintreten, bedeutet positiv ausgedrückt für Singularität und individuelle Freiheit kämpfen, heißt politisch rechts sein. Politisch links dagegen denkt, wer dafür kämpft, dass die relative Freiheit Einzelner nicht die relative Gleichheit aller erstickt.
Das Gegensatzpaar links/rechts findet also eine Entsprechung im Dualismus von Gleichheit und Freiheit. In der Parteiendemokratie werden die unterschiedlichen Ansprüche beider Seiten dieses Dualismus im ständigen politischen Wettstreit ausbalanciert. Dabei ist das Ideal der sozialen Gleichheit ebenso wenig identisch mit der Ideologie des Kommunismus wie das Ideal der individuellen Freiheit mit der Ideologie einer Eliteherrschaft. Allerdings scheint die heikle Balance zwischen Gleichheit und Freiheit derzeit aus den Fugen geraten zu sein und zum Nachteil der Gleichheit auszuschlagen. Das ist der Grund, warum die Linke als Begriff und als Denkweise so schnell wieder auf der politischen Bühne zurück ist.
Links sein heute bedeutet, dieses Ungleichgewicht nicht hinnehmen zu wollen. Für die politischen Handlungsstrategien, um das Ideal der Gleichheit nicht noch mehr ins Hintertreffen geraten zu lassen, beziehungsweise um das Gleichgewicht wieder herzustellen, stehen die Programme der verschiedenen mehr oder weniger linken Parteien. Sozialdemokratische Dissidenten haben vor der letzten Wahl die SPD verlassen, weil ihnen Gerhard Schröders Argument, man müsse Errungenschaften des Sozialstaats opfern, um noch schlimmere sozialstaatliche Opfer zu vermeiden, nicht mehr links genug war; was mit der neuen Platzeck-SPD wird, wird man sehen. Die in der SPD verbliebenen Linken lehnen jedenfalls das politische Programm einer Linkspartei ab, weil sie den veränderten Bedingungen einer globalisierten Wirtschaft und der EU mit den nationalstaatlichen Rezepten der Vergangenheit begegnen will. Exakt darin spiegelt sich das linke Dilemma. Die Spielräume linker Politik sind geschrumpft, teilweise ganz abhanden gekommen. Die politische Herausforderung ist geblieben, wenn auch derzeit verdeckt von den Kulissen der großen Koalition.
Hinter diesen Kulissen erinnert die politische Stimmung im Land nicht an 1949, aber fatal an das gesellschaftliche Klima während der ersten Industrialisierung. Man könnte den Eindruck gewinnen, statt eines vermeintlichen Endes der Ideologien nach dem Kalten Krieg hätte seither eine beschleunigte Neuauflage jener Prozesse stattgefunden, die Anfang des 19. Jahrhunderts die verschiedenen ideologischen Richtungen erst ausbildeten. Auch die Kirchen hatten damals übrigens starken Zulauf, auch das Papsttum entwickelte in jener Zeit seine uns bekannte, strenge Hierarchie, die später in der Doktrin päpstlicher Unfehlbarkeit gipfelte. Der Liberalismus überwand dann nicht zuletzt mithilfe des Deutschen Zollvereins die Massenarmut im Land und legte mit der ökonomischen die Grundlage zur nationalstaatlichen Einheit.
Der neue Liberalismus glaubt, derselbe Effekt lasse sich nach der neuesten technologischen Revolution und im Rahmen der EU wiederholen, durch wirtschaftliche die politische Einheit erzwingen. Stattdessen hat diese Politik zur Entmachtung der nationalen Parlamente geführt, ohne eine Entsprechung auf europäischer Ebene zu erreichen, letztlich also zu einer Selbstentmachtung der Politik.
Linkssein heißt, wieder Zweifel anzumelden, dass Arbeit um jeden Preis wirklich sozial ist. Der politische Anspruch auf soziale Gerechtigkeit ist freilich nur mit Mitteln der Politik, nicht der Ökonomie durchsetzbar. Links sein heißt also auch, Visionen für politische Instrumente zu haben, die wieder eine demokratische Kontrolle der Macht in der EU und auf dem globalen Markt ermöglichen.
Dazu gehört auch, die Gewaltenteilung neu zu überdenken. Demokratie ist heute durch die Konzentration politischer, wirtschaftlicher und kultureller Macht über das Instrument der Massenmedien gefährdet, wo sie in den Händen einer einzigen Interessenvertretung zusammenläuft. Im Fall Berlusconis liegt sie offen zu Tage, in anderen Ländern operiert sie unsichtbarer. Montesquieu hätte eine solche Konzentration von Gewalten Despotismus genannt.
Der Einfluss, der auf die politische Willensbildung durch die einseitige Darstellung und Bewertung von Sachverhalten genommen werden kann, ist enorm und kaum zu überprüfen. Während der letzten Jahre konnte man sich auch hierzulande oft des Eindrucks nicht erwehren, die Beurteilung der politischen Lage gehorche immer stärker einer gewissen Konformität. Es wirkte wie eine groß angelegte Stimmungsmache mit dem Ziel, die Bevölkerung für die Abschaffung jener sozialen Errungenschaften zu begeistern, die von der Demokratie in den letzten zwei Jahrhunderten erkämpft wurden. Die ersten Monate der großen Koalition geben keinen Anlass, diesen Eindruck zu revidieren.
Schließlich wäre in diesem Zusammenhang eine Kulturpolitik links zu nennen, die Chancengleichheit nicht nur im direkten Bildungsbereich, sondern vor allem bei der Möglichkeit anstrebt, am geistig-kulturellen Leben eines Landes teilzunehmen. Ein Punkt, der mir als kulturschaffender Autor natürlich ein besonderes Anliegen ist. Die Tendenz zu einer Art Zweiklassenkultur, die das Ideal der Gleichheit verletzt, ist mittlerweile kaum mehr zu übersehen. Während auf der einen Seite eine rentable Unterhaltungs- und Ruhigstellungsindustrie wächst, entsteht auf der anderen eine Hochkultur, die immer mehr repräsentativen Charakter für eine neue Elitegesellschaft gewinnt. In beiden Fällen werden Kunst und Kultur auf ihre ökonomische Effizienz reduziert.
Mit dem Ideal der Gleichheit ist das Aufklärungsideal der möglichst weit reichenden Mündigkeit möglichst vieler Bürger verknüpft. Seit Jahren wird das Fehlen einer Literatur beklagt, die ihre Gegenwart ästhetisch und zeitkritisch reflektierend begleitet und so auch am politischen Prozess partizipiert. Nach meiner Kenntnis existiert eine solche Literatur durchaus. Es liegt vielmehr am Fehlen entsprechender öffentlicher Strukturen, um sie angemessen wahrzunehmen und zu vermitteln. Zweifelsohne stellt sie den geringsten Teil in der Buchproduktion. Auch bedarf sie eines hohen Potenzials an Widerständigkeit, um ihren Anspruch bei mangelnden Resonanzräumen durchzuhalten und gegen die Dominanz von Entertainment und Repräsentation zu verteidigen. Linke Kulturpolitik hätte vermehrt dafür zu sorgen, dass die Autonomie von Literatur und Kunst gewahrt bleibt, indem sie sich einsetzt für Aufmerksamkeitsräume jenseits von Spektakel und Skandal.
Der Autor ist Schriftsteller. Zuletzt erschien sein Roman „Schule der Gewalt“ sowie, zusammen mit Eberhard Rathgeb: „Inventur. Deutsches Lesebuch 1945–2003“ (beide Hanser Verlag)