ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL : Weihnachten mit Gascoigne
... und Max Weber. Und schlafenden Müttern. Mannomann!
Es waren noch zwei Tage bis Weihnachten. Ich sitze im ICE von Berlin gen Westen, und mit mir reisen Max Weber und Paul Gascoigne. Ich lese im Kleinkindabteil. Schon gut, der letzte Satz ist sehr unglaubwürdig. Denn tote Denker und ehemalige Fußballer im Zug zu treffen, das mag noch angehen. Aber die Behauptung, man könne im Kleinkindabteil auch nur eine Seite lesen, klingt nur absurd.
Dennoch ist sie wahr. Ich lese tatsächlich. Denn alle sind eingeschlafen. Mein Kind. Die anderen Kinder. Und deren Mütter, wahrscheinlich vom Vorfeststress erschöpft. Ich höre nur ihr flaches Atmen, und schöner könnte kein Engeleinchor klingen. Ein echtes Weihnachtswunder. Halleluja! Die erste Mutter soll ich nach Porta Westfalica wecken. Bis dahin habe ich Zeit für Weber und „Gazza“ Gascoigne. Was haben der große deutsche Soziologe („Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“) und der große englische Mittelfeldregisseur („Gazza’s boys are here / shag women and drink beer“) gemeinsam? Über beide sind neue Biografien erschienen. Ich lese quer, denn Gascoigne ist eigentlich das Weihnachtsgeschenk für meinen Vater, und Weber hat fast 1.000 Seiten. Die schaffe ich nicht – nicht bis Porta Westfalica.
Also das Wichtigste in Kürze: Weber hat entdeckt, dass die Tugend der Arbeit der Kern des Kapitalismus ist und nicht das Laster der Profitgier – aber Marx hat sich trotzdem durchgesetzt. Gascoigne hat entdeckt, dass man auch als Sohn der englischen Arbeiterklasse tricksen und kombinieren kann und den Ball nicht hoch in den gegnerischen Strafraum hauen muss – aber im Elfermeterschießen hat trotzdem immer Deutschland gewonnen.
Bei Hannover gelingt es mir noch, den Kaffeeverkäufer der Bahn abzuwehren. Aber eine Mutter hat sich schon umgedreht und ein Kind sich sogar die Augen gerieben. Also schnell nach den pikanten Details geblättert: Gascoigne hat in der Halbzeitpause Brandys getrunken, über dem Trainer schon mal eine Ketchupflasche geleert und einem schwarzen Mitspieler eine Zehnerkarte fürs Solarium geschenkt. Das war im Großen und Ganzen bekannt, liest sich aber sehr lustig.
Auch bei Weber gibt es Klatsch: Der Meisterdenker litt an Erektionsstörungen! Ganz schlimmen. So schlimm, dass sie ihn sogar in ein Nervenleiden getrieben haben. Das war, glaube ich, noch unbekannt, liest sich aber nicht ganz so lustig. Außerdem misstraue ich der Pointe, dass eine neue Geliebte die Weber’schen Erektionsstörungen heilte und damit auch seine Nerven sanierte und ihm seine Kreativität zurückbrachte. Gascoigne etwa wäre – hätte er in den richtigen Momenten Erektionsstörungen gehabt – einiges Nervenaufreibende erspart geblieben. Und mir, das muss ich sagen, wenn ich mich im Kleinkindabteil umsehe, mir auch.
Zum Beispiel der folgende Moment. Denn jetzt wird mit brachialer Gewalt die Tür aufgerissen, und ein Mann in Uniform schreit: „Peeersonaaaaalweeeechseeeel!“ Alle Mütter sind sofort wach. Und – schlimmer – alle Kinder auch. Und falls doch noch ein einzelnes, ganz kleines Kindchen ein Äuglein geschlossen haben könnte, donnert der Scherge noch: „Dieeeeee Fahrkaaarten bitteee!“
Was hätte jetzt Max Weber an meiner Stelle getan? Vielleicht mit donnerndem Bass den Verfluchten zum Duell am nächsten Bahnhof gefordert? Und Paul Gascoigne? Die Notbremse gezogen, den Mann zusammengeschlagen und mit Bier übergossen?
Aber die beiden würden wahrscheinlich sowieso nicht mit dem Zug reisen. Und schon gar nicht im Kinderabteil. Da reise ich und zeige brav meine Fahrkarte und ducke mich unter den anklagenden Blicken der geweckten Mütter, als wäre ich schuld. Das unterscheidet uns Sterbliche wohl von den Großen – egal ob Soziologe oder Fußballer –, deren Leben es sogar in ein Buch bringt. Immerhin, für die Zeitung hat es auch bei mir gereicht.
Joachim Radkau: „Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens“. Hanser Paul Gascoigne (mit Hunter Davies): „Mein verrücktes Leben“. Bombus-Verlag Kleinkinderabteil: Reservierung nur telefonisch
Fragen zu Gascoigne? kolumne@taz.de Morgen: Adrienne Woltersdorf OVERSEAS