: Kein Opferfest für Überlebende
In Pakistan haben die meisten Überlebenden des Erdbebens das islamische Opferfest ohne die üblichen Fleischspenden feiern müssen. Stattdessen hat es stark geschneit
GHANOOL taz ■ „Das diesjährige Eid-Fest ist kein fröhliches Fest gewesen. Keine Tiere wurden geschlachtet. Kaum ein Überlebender des Erdbebens hat seine Familie oder Nachbarn besucht.“ Mit diesen Worten zieht Jan Vandemoortele, der die humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen im pakistanischen Erdbebengebiet koordiniert, am Wochenende Bilanz des diesjährigen muslimischen Opferfestes.
Diese Auffassung teilt auch der Bauer Siddique aus Ghanool, einem Dorf in einem Seitental des Kaghan-Flusses, 200 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Islamabad: „Letztes Jahr habe ich drei Ziegen geopfert und an Familie, Freunde und Arme verteilt. Heute bin ich selbst auf Almosen angewiesen. Wer hätte gedacht, dass ein Tag mein Leben so verändern kann?“
Das Ghanool-Tal ist eines der zahlreichen Seitentäler im Erdbebengebiet Pakistans und Kaschmirs. In einem Armeelager werden anlässlich des Opferfestes die Rationen durch Fleisch ergänzt. Das Lager liegt unterhalb der zerstörten Schule, in der 42 Kinder starben. 25.000 Menschen lebten vor dem Beben im gesamten Tal. „Heute gehen wir von 7.000 Menschen aus. Für die haben wir Rationen für sieben Tage. Wir hatten letzte Nacht 40 Zentimeter Neuschnee. Da wissen wir, dass Hilfe nur unregelmäßig kommt“, erklärt Leutnant Kaschif.
Das Welternährungsprogramm (WFP) hat bis jetzt 42.000 Tonnen Lebensmittel im Erdbebengebiet verteilt. „Wir verfügen über ausreichend Lebensmittel“, erklärt der WFP-Sprecher Philip Clarke. Doch bei Transportkosten von einer Million US-Dollar pro Hubschrauber im Monat sei die größere Herausforderung, die Lebensmittel zu den Bedürftigen zu bekommen, so Clarke. Derzeit sind die insgesamt geplanten UN-Operationen im Erdbebengebiet nur zu 54 Prozent finanziert. Und dem WFP fehlen noch 25 Prozent der insgesamt benötigten 59 Millionen Dollar.
Die internationalen Hilfsorganisationen konzentrieren sich auf die von der Armee und dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) betreuten 26 „geplanten“ Zeltlager. Darüber hinaus gibt es 118 „spontane“ Zeltlager, die von privaten und religiösen Organisationen betreut werden. Schätzungen zufolge verloren 3,5 Millionen Menschen durch das Erdbeben vom 8. Oktober 2005 ihre Unterkunft. Nur 140.000 von ihnen leben jetzt in Zeltlagern.
Zwei Lager mit 140 Familien gibt es derzeit im Ghanool-Tal. Die große Mehrheit – rund 6.300 Menschen – zieht es vor, in behelfsmäßigen Unterkünften auf eigenem Grund zu überwintern. Das ist auf 2.500 Metern Höhe ein harter Überlebenskampf.
Die pakistanische Armee, Hilfsorganisationen und UNO sehen zwei Herausforderungen für die nächsten Wochen: Zum einen müssen die Notbehausungen winterfest gemacht werden und vor allem die Kinder mit Kleidung und Schuhen versorgt werden. Zum anderen müssen die „spontanen“ Zeltlager in die medizinische Betreuung einbezogen und alle Lager auf die Aufnahme zusätzlicher 200.000 Flüchtlinge vorbereitet werden. Denn die könnten bei einer Verschärfung des Winters hinzukommen. Bereits im Dezember wurden mehr als 300.000 medizinische Behandlungen in den Feldlazaretten und behelfsmäßig reparierten Krankenhäusern im Erdbebengebiet durchgeführt. 25 Prozent davon waren Infektionen der Atemwege und Lungenentzündungen.
In Ghanool ist die zu Eid traditionell übliche Verteilung von Fleisch, die dieses Jahr wegen des Bebens vielerorts ausfällt, dank einiger Spenden aus Deutschland und der Schweiz trotzdem ein Fest gewesen. Die Männer kommen gerade vom Mittagsgebet aus der zerstörten Moschee. Der Muezzin segnet das Fleisch, das an das Tieropfer Abrahams erinnert, der bereit gewesen wäre, auf Gottes Gebot seinen Sohn Isaak zu töten. In Anbetracht des Opfers, das die Menschen im Erdbebengebiet erbringen müssen, sagt der Muezzin: „Ein einziges Schaf haben wir gestern geopfert. Allah ist groß, dass er euch Fleisch für alle sendet – Eid Mubarak!“ NILS ROSEMANN