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Archiv-Artikel

BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN Mein Leben als Telenovela

Der versoffene Nichtsnutz wankte und kratzte sich an den Eiern. Leider hatte ich keine Axt zur Hand

„Bianca – Wege zum Glück“, „Tessa – Ein Leben für die Liebe“, „Sturm der Liebe“. Verbotene Liebe, heimliche Liebe, unerfüllte Liebe, wahrhafte Liebe. Telenovelas haben die deutschen Bildschirme fest im Griff. Die Bundesrepublik ist ein demokratisches Land. Solange ich die „Simpsons“ sehen kann, von mir aus. Nur eins verstehe ich nicht, bei aller Liebe: Warum gibt es keine Telenovela, die ausschließlich im Osten ihre Handlung hat?

Der Osten ist so reich an Stoffen, dass man sich die Hälfte der Drehbuchhanseln sparen könnte. Man nehme zum Beispiel die arbeitslose Elektroingenieurin Elke Reinke aus Sachsen-Anhalt, die es von der Hartz-IV-Empfängerin zur Bundestagsabgeordneten geschafft hat. Okay, es ist nur die Linkspartei, und deren Verhältnis zur Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit WASG ist nicht gerade von Liebe geprägt, aber egal. Elke Reinke war 15 Jahre arbeitslos. Die Mutter zweier Kinder hat nicht mit ihrem Schicksal gehadert. Sie hat als Aufsicht in einer kalten Kirche mit einem 1-Euro-Job ihr karges Einkommen aufgebessert und Montagsdemonstrationen in Aschersleben organisiert. Ehe sie es sich versah, zog sie für die Linkspartei in den Bundestag. Das Schicksal katapultierte sie von Aschersleben nach Berlin. „Vom Aschenputtel zur Abgeordneten“. Das ist so platt, dass man es sich besser gar nicht ausdenken könnte. Platt wie das Leben.

Die erste Telenovela habe ich dort gesehen, wo das Genre herkommt, in Lateinamerika. In einer kleinen Stadt im Süden Mexikos war ich in einem bescheidenen Hotel abgestiegen und hatte das Gefühl, der einzige Gast zu sein. Der größte Luxus des fensterlosen Raums am Ende eines langen Gangs war ein alter Fernseher, der über dem Bett hing. Um ihn vor Dieben zu schützen, war er, wie auch die Milchglastür, mit Eisenstäben gesichert. Durch die Stäbe hindurch sah ich eine Telenovela vom Feinsten.

Es war die Geschichte einer geschundenen Frau, deren versoffener Ehemann ihr das Leben zur Hölle machte. Tag und Nacht lag der schnauzbärtige Mann mit seinem zerbeulten Sombrero und seinen ausgetretenen Cowboystiefeln in der Hängematte. Ab und an hievte sich der massige Nichtsnutz aus der Hängematte, rülpste, schob seinen Sombrero in die Stirn, kratzte sich an den Eiern und holte sich eine neue Flasche. Bis der Moment kam, als es der Frau reichte. Mit einer Axt in der Hand näherte sie sich dem Zombie in der Hängematte. Der Regisseur hatte das hervorragend umgesetzt. Er zeigte die Frau als Schattenumriss an der Wand. Als sie wie in Zeitlupe mit der Axt die Bartspitzen ihres Mannes berührte und er ein Grunzen von sich gab, setzte der Abspann ein. Ich hätte die Gitterstäbe vor dem Fernseher herausreißen können.

Stattdessen machte ich das Gerät aus und legte mich brav schlafen. Nach wenigen Minuten klopfte es an meiner Tür. Ich bekam einen Heidenschreck. „Was gibt’s?“, rief ich mit lauter Stimme. Ich vernahm ein unverständliches Grummeln. Als ich mich aufsetzte, sah ich ein Schattenspiel vor der vergitterten Glastür, das mir verdammt bekannt vorkam: ein breiter Sombrero, ein üppiger Schnauzbart, ausgetretene Cowboystiefel und ein massiger Körper, der gefährlich hin und her schwankte und sich an den Eiern kratzte. Ein betrunkener Gast begehrte Einlass in mein Zimmer.

Weil ich keine Axt bei mir hatte, setzte ich mich mit meinem Mundwerk zur Wehr. Nach einer halben Stunde torkelte der Typ von dannen. Weil ich nicht wusste, ob er vielleicht nur eine neue Flasche holte, beschloss ich, das Hotel unverzüglich zu verlassen. Nachdem ich an der Rezeption die zwei Dollar Übernachtungskosten zurückgefordert hatte, ging ich zum Busbahnhof.

Es war drei Uhr nachts und nicht viel los. So war ich froh, mit einer Tortillaverkäuferin ins Gespräch zu kommen. Aufgeregt erzählte ich ihr von der Telenovela und deren Einzug in mein Leben. Das haute die Frau nicht vom Hocker. Solche Männer kannte sie zur Genüge. Viel mehr interessierte sie, aus welchem Land ich sei. Ich kam nicht umhin, ihr von der DDR zu erzählen. Das fand sie spannender als jede Telenovela.

Fragen zur Telenovela? kolumne@taz.de MORGEN: Barbara Dribbusch GERÜCHTE