: Vom Heldentum zur Hirnamputation
Die moderne Gesellschaft ist in erheblichem Maße dadurch charakterisiert, Risiko durch Statistik zu managen. Ernst Jünger verhöhnte schon vor bald 90 Jahren den „umfassenden Aufbau eines Versicherungssystems, durch das das Risiko des privaten Lebens gleichmäßig verteilt werden soll“. Dies seien „Bestrebungen, in denen man das Schicksal durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung aufzulösen sucht“. Der Anarcho-Reaktionär Jünger sah durch Risikomanagement eine postheroische Gesellschaft heraufdämmern, was ihn verständlicherweise gar nicht freute.
Nun hat sich Angelina Jolie vorsorglich beide Brüste amputieren lassen, weil ihr ein mutiertes Gen eine 85-prozentige Brustkrebswahrscheinlichkeit bescherte, ein Risiko, das sich durch den operativen Eingriff auf 5 Prozent minimieren ließ.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Jolies Lebensgefährte Brad Pitt die Entscheidung seiner Frau „absolut heldenhaft“ nannte. Und obwohl es gewiss übermenschlicher Überwindung bedarf, sich prophylaktisch unters Messer zu begeben, ist es doch bemerkenswert, dass heute Maßnahmen zur Risikominimierung mit dem „Heldenhaft“-Attribut aufgezwirbelt werden. Jünger hätte darüber ganz bestimmt einen Tagebucheintrag gemacht.
Statistiken helfen uns ja nicht nur, die Risiken zu gewichten und auf dieser Basis rationale Entscheidungen zu treffen. Sie helfen uns oft auch, die Welt zu verstehen – oder auch misszuverstehen. Ja, oft ist politische Propaganda heute ein Lügen mit Zahlen.
Deutschlands Wirtschaft, haben wir vergangene Woche gelernt, wuchs im jüngsten Quartal um 0,1 Prozent, während Frankreichs BIP nun schon zwei Quartale in Folge schrumpft, von den Krisenstaaten im Süden ganz zu schweigen. Griechenland ist jetzt sechs Jahre in einer Depression, die Jugendarbeitslosigkeit hat gerade die 60-Prozent-Marke geknackt.
Deutschland soll also wirtschaftlich stark sein. Mit einem Wachstum von 0,1 Prozent. Da wird Frau Merkel ganz gewiss wieder anmahnen, dass sich die anderen doch ein Beispiel am deutschen Wunderwachstum nehmen sollen!
Nun könnte man natürlich auch sagen, der Austeritätsirrsinn, der wesentlich von Merkel und Schäuble in Europa durchgesetzt wird, beschert dem Süden jetzt schon einen jahrelangen ökonomischen Niedergang und dem sogenannten noch „reichen“ Norden längst auch eine Rezession. Seit 18 Monaten ist die Eurozone als Ganzes in einer Rezession, also gewissermaßen in dieser „Merkel-Rezession“.
Und man könnte auch ein paar Statistiken anfügen, die die Vorbildhaftigkeit der deutschen Wirtschaftspolitik in einem etwas anderen Licht zeigen. Etwa die schöne Balkengrafik, die den Anteil der im Niedriglohnsektor Beschäftigten zeigt. In Deutschland arbeiten 22,2 Prozent aller Beschäftigten in diesem Segment – sind also Working Poor. In Schweden sind es nur 2,5 Prozent. So sieht die deutsche Stärke aus, wenn man es sich genau ansieht.
Besonders frappierend war dieses Lügen mit Zahlen zuletzt mit den europäischen Vermögensstatistiken, die im Auftrag der Europäischen Zentralbank erstellt waren, denen die sogenannten deutschen Qualitätsmedien, vom Spiegel abwärts, sofort den Spin gegeben haben: Arme Deutsche zahlen für reiche Griechen. Wer sich mit den Daten auskannte, wusste, dass vor allem zwei Dinge zu Buche schlagen: Erstens gibt es in Deutschland wie auch in Österreich eine andere Wohnungsmarktkultur – hier wohnen mehr Menschen zur Miete als in Griechenland oder Spanien. Der Immobilienbesitz im Süden schlägt dann als höheres Vermögen durch. Und zweitens muss einfach jeder Grieche 20.000 Euro aufm Konto haben, wenn er sicher durchs Leben kommen will. Wenn man dort krank wird, muss man dem Oberarzt erst einmal ein dickes Kuvert mit Geld zustecken, um an ein Krankenhausbett zu kommen. Das muss man hier nicht. Ein funktionierender Sozialstaat ist, so gesehen, auch Vermögen. Bloß eines, das in keiner Vermögensstatistik aufscheint.
Aber aus all dem „arme Deutsche zahlen für reiche Griechen“ zu machen, da gehört schon verdammt viel kriminelle Energie dazu. Letztere bewies vergangene Woche auch ein CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt, der, im Lichte der paar dämlichen Sätze, die Daniel Cohn-Bendit vor 38 Jahren geschrieben hat und die ihm jetzt schon jahrzehntelang vorgehalten werden, den Monsieur Europe einen „widerwärtigen Pädophilen“ nannte. Ich wäre ja dafür, dass Dany den CSU-Mann angesichts dieses Rufmordversuchs in den Privatkonkurs klagt. Aber womöglich kann der Herr Dobrindt mildernde Umstände geltend machen: Vielleicht hat er sich, um sein Tumorrisiko zu reduzieren, vorsorglich das Gehirn amputieren lassen.
ROBERT MISIK