: Austausch alter Argumente
Eine erneute Debatte um Laufzeiten wäre so schädlich wie ein veraltetes Atomkraftwerk selbst – sie muss abgeschaltet werden, bevor sie wieder unsere Energien verschwendet. Ein Plädoyer für Effizienz
VON MARTIN UNFRIED
Herr Glos murmelt, man müsse nochmals drüber nachdenken. Ich bin anderer Meinung. Niemand sollte auch nur einen Gedanken daran verschwenden und sich überlegen, ob wir nochmals darüber nachdenken sollten. Denn was man überhaupt nicht machen sollte, ist nochmals irgendwie drüber nachdenken. Und darüber reden schon gar nicht. Wir haben für Atomenergie einfach keine Zeit. Nicht weil ich ein notorischer Atomenergiegegner bin. Sondern weil auf dem Altar des Atomstreits in Deutschland bereits zu viel Lebenszeit geopfert wurde.
Was hätte man in den 70er- und 80er-Jahren alles tun können: mehr Kinder zeugen, Holzfiguren schnitzen, sich besser zuhören. Stattdessen war die eine Hälfte am Bauzaun Steine werfen und die andere damit beschäftigt, Politiker zu massieren.
So muss ich wohl Wirtschaftsminister Glos daran erinnern, dass er in erster Linie an die Volkswirtschaft denken sollte, an die Gesundheitskosten und an die ohnehin schon zerrütteten Familien.
Denn was bedeutet „nochmals drüber nachdenken“? Koalitionsstreit, Leitartikel, Internetforen, „Christiansen“, vielleicht wieder Demos, Lobby-Aktivitäten der Industrie, Schmiergeld, Anfeindungen, Beleidigungen, Rechtsmittel – gegen oder für die Atomkraft. Und wofür das alles? Um einige Kisten 10 Jahre länger laufen zu lassen?
Das ist das wahre Problem der Atomdebatte: Eine Laufzeitverlängerung wäre in erster Linie Energieverschwendung. Verpufft, verschwendet, vergeudet würde die Energie und damit die Lebenszeit eines nicht ganz unwichtigen Teils der Gesellschaft. Egal wie die Debatte ausgehen würde, wir hätten alle verloren: Nerven und Zeit für andere wichtige Dinge. Und wofür das alles? Um uns die alten Pro- und Contra-Klassiker zuzurufen, die wir zur Genüge kennen?
Wenn die Duden-Redaktion schon vor Jahren alle Argumente und Gegenargumente einander sauber gegenübergestellt hätte (siehe Kasten), wie viele Stunden unnützen Debattierens wären uns erspart geblieben?
Denn das Beste am Ausstiegsbeschluss war bekanntlich die Ruhe, die danach herrschte. Außer den Wendland-Bewohnern (Arschkarte) hatten alle erst mal Pause. Das war ausgezeichnet für die Volkswirtschaft, denn der Streit um die Kernkraft hatte bei beiden Seiten oft zu Bluthochdruck geführt, was auch für die Krankenkassen nicht gut ist.
Wer sich um Kernkraft kümmert, kann nicht gleichzeitig shoppen gehen – die Probleme mit der Binnennachfrage sind bekannt. Soll das alles von vorne beginnen? Nein, Papa gehört am Samstag in den Baumarkt und nicht an den Bauzaun. Und Frau Christiansen könnte doch auch mal über journalistische Störfälle diskutieren.
Überhaupt brauchen wir dringend mehr Zeit, um in den Keller zu gehen. Da hängt häufig der Stromzähler. Den müssen wir nämlich ablesen, und zwar jeden Tag, um Wochen- und Monatsberichte zusammenzustellen: Solange selbst ökologisch motivierte Zeitgenossen mir beim Verhör ihren jährlichen Strom- und Gasverbrauch sowie ihr Reduktionsprogramm für eine Halbierung desselben bis 2010 nicht auswendig aufsagen können, diskutiert mir hier niemand mehr über Kernkraft. Und dämliche Leserbriefe dürfen die auch nicht mehr schreiben. Dasselbe gilt für Michael Glos und die Vorstandsvorsitzenden der Energie- und Industrieunternehmen.
Wir haben einiges einzusparen. Sparen wir uns also zuerst eine neue Atomdebatte. Ab jetzt.
MARTIN UNFRIED ist privat Anhänger der Effizienzrevolution. Beruflich ist er Umweltexperte am „European Institute of Public Administration“ in Maastricht