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Archiv-Artikel

Sandra auf der Flucht

Sandra O. wollte als Frau leben, doch von den Mithäftlingen gab es Spott. Der Leidensdruck war groß, erinnert sich der JVA-Chef. Von einem Freigang kam sie nicht zurück

„Der hätte bis 20.40 Uhr ausgehen können“, sagt der Direktor, „dann kam sie einfach nicht zurück“

AUS DIEZ, TRIER UND COCHEM GABRIELA M. KELLER

Sandra O. passte nirgendwo hin. Sie durfte nicht zu den Frauen, sie wollte nicht zu den Männern, sie musste. Sandra O. hielt es nicht aus, und deshalb ist sie jetzt weg. Sandra O. ist eine Frau, die eingesperrt war. Nicht nur im falschen Körper. Sondern auch im falschen Gefängnis.

Blassgraue Wolken wehen über hohe Wände aus stahlvernieteten Betonplatten, als sich Gefängnisdirektor Jörg Schäfer von seinem Schreibtisch erhebt und nach der dicken Mappe greift. Er lässt sich an den achteckigen Besprechungstisch nieder, schlägt die Akte auf und setzt an, zu erklären, wie es so kommen konnte. Dass in der Männer-JVA in Diez, Rheinland-Pfalz, ein Häftling fehlt, ein Häftling mit weiblichem Vornamen. „Der hätte bis 20.40 Uhr ausgehen können“, sagt er, „dann kam sie einfach nicht zurück.“

Schäfer spricht konzentriert, trotzdem kommt er ab und an mit den Pronomen durcheinander. Sandra O. gehört zu den Menschen, bei denen die gefühlte Identität und der Körper nicht zueinander passen. Im Sommer 2012 wurde sie wegen mehrere Einbrüche zu vier Jahren Haft verurteilt. Zunächst saß die Transsexuelle in Koblenz in Haft. Es dauerte nicht lange, bis andere Häftlinge anfingen, sie zu schikanieren. Sandra O. fühlte sich bedroht. Daher verlegte man sie im Dezember nach Diez.

Recht auf Frauenkleider

Jörg Schäfer denkt einen Moment nach, sein Blick geht aus dem Fenster. Vor den Gittern windet sich Stacheldraht. Er sagt, dass Sandra O. ihre Zelle, gerade acht Quadratmeter, so gut wie nie verlassen hat. Sie hätte Frauenkleidung tragen können. Nach einem Urteil des Oberlandesgerichts Celle von 2003 darf Transsexuellen dies nicht verwehrt bleiben: „Frauenkleider in Gefängnissen sind sozialverträglich, auch bei Männern.“ Jörg Schäfer sagt: „Wir hätten ihm Frauenkleidung ermöglicht. Gleichwohl hätten wir ihn darauf hingewiesen, dass es dann schwierig werden kann, seine Sicherheit zu gewährleisten.“

Sandra O. ließ es nicht darauf ankommen. Sie streifte sich den blauen Häftlingsanzug über und bat, mit Herr O. angesprochen zu werden, nicht mit Frau O. „Sie hat gesagt, sie wollte das nicht“, sagt Manfred Czakert, stellvertretender Abteilungsleiter im Dora-Flügel. „Um kein Aufsehen zu erregen, geh ich mal von aus.“ Schäfer hat Czakert dazugeholt, weil der direkt mit ihr zu tun hatte. Er faltet seine Hände auf dem Tisch, vor ihm dampft eine Tasse Kaffee, die er nicht anrührt. Czakert hat gemerkt, das Sandra O. gelitten hat. „Sehr“, sagt er. „Sie hat ja einen Weg gesucht, als Frau anerkannt zu werden. Und jetzt waren wir für sie zuständig.“

Die Beamten beschreiben Sandra O. als stille Person, die keinen Ärger gemacht hat. Zwar sei sie in Diez nicht systematisch belästigt worden, doch Sprüche, die kamen vor, Pfiffe, Spott. „Das bleibt ja nicht aus“, sagt Czakert. Jörg Schäfer wollte es Sandra O. etwas leichter machen. Also ließ er sie in den offenen Vollzug verlegen, auch wenn das nach so kurzer Zeit unüblich ist.

„Mein Ziel war, ihren Leidensdruck zu verringern.“ Mitte März zog Sandra O. ins Freigängerhaus, arbeitete in der Gärtnerei, konnte die Anstalt fünf Stunde pro Woche verlassen. Das ging ein paar Tage lang gut. Dann verschwand Sandra O. Nun wird nach ihr gefahndet. Die Polizei hat im Mai ein Foto veröffentlicht: ein rundes, weiches Gesicht, kurzes Kinn, Halbglatze, halblange Haare. Sie ist 52 Jahre alt, 1,73 Meter groß, wiegt 90 Kilo.

Ihren männlichen Vornamen hat sie vor mehr als zwanzig Jahren abgestreift. Aus Thomas wurde Sandra, so stand es auch in ihrem Pass. Sie fing eine Hormonbehandlung an, brach sie aber wieder ab. Ihre Geschlechtsteile konnte sie nicht angleichen lassen. Weil Sandra O. an einer entzündlichen Krankheit leidet, war eine Operation nicht möglich. Ihr Körper blieb männlich, ebenso ihr Personenstand. Daher sah die Staatsanwaltschaft Koblenz keine Alternative, sie in einem Männerknast unterzubringen.

„Dem tatsächlichen Geschlecht nach handelt es sich bei ihr noch um einen Mann“, sagt Oberstaatsanwalt Rolf Wissen. Doch was genau ist das „tatsächliche Geschlecht“? Wer hat darüber zu entscheiden? Die Grundrechte gelten auch im Gefängnis, dazu gehört das Persönlichkeitsrecht. Was also war mit Sandra O.? Hätten die Behörden sie nicht doch in ein Frauengefängnis einweisen müssen? „Das wäre unvorstellbar, unverantwortlich“, ruft Wissen ins Telefon. Viel zu groß sei die Gefahr, dass es zu einem sexuellen Verhältnis oder zu einem Übergriff kommt.

Allerdings können solche Entscheidungen auch anders ausfallen, sagt Patrizia Metzer von der Deutschen Gesellschaft für Transsexualität und Intersexualität (DGTI). „Es gibt inzwischen flexiblere Lösungen.“ Metzer befasst schon lange mit diesem Thema. Es gibt keine Statistiken, wie hoch der Anteil Transsexueller an den Gefangenen ist. Metzer kennt mehrere Häftlinge in Berlin und Brandenburg, die trotz Männerkörpers in Frauengefängnissen leben, in Einzelzellen. Ob so etwas geht, hängt immer vom Einzelfall ab, verbindliche juristische Leitlinien fehlen. „Es ist eine Frage der Persönlichkeit, des Gefängnispsychiaters, der Haftanstaltsleitung“, sagt Metzer, „und des Betroffenen selbst, wie er sich anstellt.“

Sylvia Karrenbauer hat oft überlegt, was sie tun kann, um Sandra O. zu helfen. Die Anwältin hat unter anderem versucht, sie in Kontakt mit Transsexuellen-Vereinen zu bringen. Doch Sandra O. blockte ab. „Der Anstaltspfarrer und ich waren ihre einzigen Bezugspersonen, es gab keine Familie, keine Freunde.“

„Alles relativ sinnlos“

Die Juristin überquert den Marktplatz von Trier, steuert auf ein Café zu und breitet ihre Unterlagen auf dem Tisch aus. Sie zögert vor jeder Antwort, manches lässt sie offen. Als Anwältin ist sie an die Schweigepflicht gebunden. Sie hatte O. ab 2010 als Pflichtverteidigerin vertreten.

Die Bewährungszeit war noch nicht abgelaufen, als im Winter 2011 ein Anruf bei der Anwältin einging. Sandra O. war wieder verhaftet worden, wieder wegen Einbruchs. Diesmal stand sie in Cochem vor Gericht, angeklagt in 34 Fällen, nachgewiesen werden konnten ihr sieben. Sandra O. drang in Schulen und Kitas ein, hin und wieder auch in Firmen, Büros und in Behörden. Meist fand sie nur ein paar Euro, mal hat sie nur eine Limo getrunken, mal ein paar Kekse gegessen. „Alles relativ sinnlos“, sagt die Juristin. Es ist anzunehmen, dass es Sandra O. auch darum ging, einen Schlafplatz zu finden. Sie hatte keinen festen Wohnsitz.

Sylvia Karrenbauer berührte die Geschichte ihrer Mandantin. Sie spürte, wie die Haftbedingungen ihr zugesetzt haben. „Es war für sie sehr belastend.“ Die Juristin senkt ihren Blick, hängt kurz ihren Gedanken nach, dreht den Silberring an ihrem Finger.

Die Situation im Gefängnis war eine Sache, eine andere die Art, wie die Presse berichtete. „Sie wurde zum Objekt degradiert“, sagt Sylvia Karrenbauer, zieht ihr Handy aus der Jackentasche und lässt einen RTL-Beitrag laufen. Sandra O.s Foto ist zu sehen, bearbeitet mit Photoshop: Die Transsexuelle mit Perücke und greller Schminke. Die Bild brachte ähnliche Montagen. „Ich finde, so was gehört sich nicht.“

Dass Sandra O. geflohen ist, hat Sylvia Karrenbauer Anfang Mai erfahren. Nach dem Prozess in Cochem war es zum Bruch zwischen ihr und ihrer Mandantin gekommen. Nun ist sie in Sorge. Wenn es schlecht läuft, begeht Sandra O. nun noch weitere Einbrüche. Für die Juristin macht der Fall deutlich, wie dringend es wäre, die Gesetze zu überarbeiten. „Die Rechtslage ist unbefriedigend“, sagt sie. „Es muss sich etwas ändern. Auch Minderheiten haben Gehör verdient.“

Rund 100 Kilometer weiter nördlich steigt eine junge Frau aus ihrem Auto. Vor ihr erhebt sich das Amtsgericht von Cochem an der Mosel, ein Bau mit Rundbogenfenstern und Stufengiebel. Katja Thönnes vom Cochemer Wochenspiegel hat über den Prozess berichtet. „Man weiß natürlich, dass da eine Verhandlung stattfindet, die hier im ländlichen Raum nicht ganz so alltäglich ist“, sagt sie, steigt die Treppe hinauf. Dann deutet sie in den Saal, wo das Urteil gefallen ist. Parkett, an der Wand ein Mosaik: Mose empfängt die Zehn Gebote.

Rein äußerlich ein Mann

Die Journalistin erinnert sich, dass Sandra O. in der Verhandlung oft gesagt hat, dass sie in ein Frauengefängnis will, dass sie über Mobbing in der JVA Koblenz klagte. Doch äußerlich, sagt sie, hatte Sandra O. wenig an sich, was weiblich wirkte. „Wenn man sie gesehen hat, wäre man nie drauf gekommen, dass sie sich für eine Frau hält.“ Die Redakteurin tritt auf die Straße, schlendert zu dem Café gegenüber und kramt ihren Block hervor. Der Wochenspiegel ist ein Anzeigenblatt. In Cochem, mit 5.000 Einwohnern die zweitkleinste Kreisstadt Deutschlands, war der Prozess eine große Geschichte.

„Es gab damals viele Polizeimeldungen von Einbrüchen. Das hatte für große Unruhe gesorgt“, sagt Katja Thönnes, blättert in ihren Notizen. Gleich am ersten Prozesstag geriet Sandra O. mit den Journalisten aneinander. Thönnes war mit ihrem Chef im Gericht, der richtete seine Kamera auf die Angeklagte. Sandra O. trat nach ihnen, wollte auf sie losgehen. „Ihr Auftreten war mehr als aggressiv.“ Der Wochenspiegel machte mit der Geschichte auf, die Überschrift: „Ist diese Frau noch ‚Herr‘ ihrer Sinne?“

Allmählich bricht die Mittagszeit in der JVA Diez an, Gefängnisdirektor Jörg Schäfer läuft einen Korridor herunter, von dem die Zellen abgehen, vereinzelt schieben Beamte Wagen voller Essensportionen vor sich her. Auch Schäfer hat nicht vergessen, welche Schlagzeilen das Verfahren gemacht hat. „Das war hier auf den Dörfern ein Riesenbohei.“ Als Sandra O. zu ihm kam, hat er im Gesetz nachgelesen, welche Möglichkeiten es für sie geben könnte. „Mir ist nicht ganz klar geworden, wie das aktuell aussieht“, sagt Schäfer, ein promovierter Jurist. Er riet ihr, sich selbst schlau zu machen. Stattdessen ist sie auf und davon. „Wenn Sie mich persönlich fragen“, sagt Schäfer, „mir war klar, dass der in einer Damenanstalt durchaus gut aufgehoben wäre.“