piwik no script img

Archiv-Artikel

In Paralleluniversen

CANNES CANNES 7 In Nicolas Winding Refns „Only God Forgives“ wie in Claire Denis’ „Les Salauds“ trifft Genre auf griechische Tragödie

„Meine Tochter“, sagt Nicolas Winding Refn, nachdem er den Photocall auf dem Dach des Festivalpalais hinter sich gebracht hat, „hat gewisse Fähigkeiten. Sie sieht Dinge, die nicht existieren. Ich wollte einen Film darüber drehen, wie es wäre, in diesem Paralleluniversum zu leben.“ Sollte „Only God Forgives“ dieses Paralleluniversum sein, dann möchte man hoffen, dass die Tochter des dänischen Regisseurs schon ein bisschen älter ist. Denn nicht umsonst eilt dem Film der Ruf voraus, ultrabrutal zu sein, mindestens so brutal wie frühere Arbeiten Winding Refns, „Drive“ etwa oder „Valhalla Rising“. „Only God Forgives“ spielt in Bangkok; er nutzt Versatzstücke des ostasiatischen Martial-Arts-Kinos, es gibt einige Kickboxszenen und eine Figur, die das Schwert virtuos führt. Doch die Genreelemente wirken, als hätte Winding Refn sie absichtsvoll in den Halbschlaf versetzt. Er zerstückelt die Rachegeschichte, um die der Film sich dreht, und zerdehnt die einzelnen Teile dann kunstvoll.

Im Mittelpunkt steht Julian (Ryan Gosling), Inhaber eines Nachtclubs und eines Kickboxstudios. Sein Bruder wird ermordet, nachdem er eine Jugendliche vergewaltigt und getötet hat. Statt ihn zu rächen, wie es die herrische Mutter (Kristin Scott Thomas) fordert, steht Julian meistens an Türschwellen oder in Fluren, die an die Korridore David Lynchs erinnern: Sie münden in existenzielles Dunkel. Oft sind die Räume in rotes oder goldenes Licht getaucht, ein orakelähnlicher Tigerkopf prangt an einer Wand, und viele Sequenzen sehen zwar aus, als seien sie im Schuss-Gegenschuss-Verfahren montiert, doch das trügt, weil die Figuren, die man vor dem Schnitt sieht, nicht im selben Raum sind wie die, die man danach sieht. Winding Refn hebt in diesen Sequenzen die Einheit von Raum und Zeit auf. Durch die dissoziative Montage lässt er sein Publikum stets im Unklaren darüber, was jenseits des Bildrands vor sich geht und wie die Einstellungen wirklich zusammenhängen, ob sie zeitlich aufeinanderfolgen oder ob die Chronologie außer Kraft gesetzt ist.

„Only God Forgives“ hat weder den Retroschick von „Drive“, noch weitet er sich so sehr ins Mystische wie „Valhalla Rising“. Bemerkenswert ist, wie der coole Hund von Hauptdarsteller konsequent gegen sein Image besetzt ist. Ryan Gosling, zurzeit einer der gehyptesten Schauspieler Hollywoods, gibt hier eine Figur, die von der Mutter nicht loskommt, in Sachen Faustkampf nichts draufhat und im letzten Drittel des Films von so vielen Hämatomen entstellt ist, dass die Schönheit des Schauspielers nicht mal mehr zu erahnen ist. Kristin Scott Thomas verkörpert den Inbegriff der Albtraummutter, eine hexenartige Figur mit orangefarbenen Nagelkrallen. Winding Refn arbeitet gerne mit Figurenkonstellationen, die schlicht und abgründig zugleich sind, er schaut sie sich aus Märchen ab. Und Ödipus macht im Hintergrund auch eine Menge Radau. Eine gewagte Kombination, fragil auch, weil sie in Manierismus zu kippen droht, sobald das Wohlwollen aus dem Auge des Betrachters weicht.

Interessanterweise hat „Only God Forgives“ eine Art Spiegelfilm in der Nebenreihe „Un Certain Régard“. Auch Claire Denis’ Film „Les Salauds“ („Scheißkerle“) kombiniert elliptische Erzählung, hyperdysfunktionale Familie, Genrekino und griechische Tragödie, und so wie in „Only God Forgives“ der Score von Cliff Martinez für eine Konstante im Fragmentarischen sorgt, so ist es hier die Musik der Tindersticks. Den Figuren in „Les Salauds“ mit den Kategorien des psychologischen Realismus beikommen zu wollen führt wie bei Winding Refn in die Irre; Michel Subor etwa gibt eine Art Oger, einen abgrundtief bösen, überaus mächtigen Mann, dessen perverse Begierden eine ganze Familie zerstören. Man sieht Bilder, die an Andy Warhols Car-Crash-Serie erinnern, und dann noch solche, die man vielleicht lieber nicht gesehen hätte: Ohne mit der Wimper zu zucken, setzt Denis die Details eines inzestuösen Akts in Szene. Und wie bei Winding Refn ist das gewagt, aber auch fragil. CRISTINA NORD