Carlchen Maulaufreißer

Bekennende Linke und Frauen- und Friedensbewegte, die mit einer großen Hellsicht und einer ausgeprägten Fähigkeit zum Wandel ausgestattet war: Ein Nachruf auf die Publizistin Carola Stern, die am Donnerstag im Alter von 80 Jahren verstarb

von ANGELIKA OHLAND

Da muss man erst mal Luft holen: Carola Stern ist tot. Das lässt einen nicht kalt. Für die Publizistin konnte man schwärmen, oder man fand sie schrecklich. Aber unberührt bleiben, das konnte man nicht. „Carlchen Maulaufreißer“ hat ihr Mann sie einmal genannt, und es ist nicht ganz klar, ob er das nun als Lob oder Tadel gemeint hat.

Aber eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Langweilig war Carola Stern nie. Sie war die erste Frau, die im deutschen Fernsehen politische Kommentare sprach, sie setzte sich vehement für die Ostpolitik Willy Brandts ein und gab mit Günter Grass und Heinrich Böll die Literaturzeitschrift L 76 heraus; sie gründete die deutsche Sektion von amnesty international mit; und 1971 war sie eine von 374 Frauen, die bei Alice Schwarzers spektakulärster Emma-Aktion bekannten: „Ich habe abgetrieben.“ So blieb das bis zuletzt: Man glaubte sie zu kennen und wurde dann doch wieder überrascht. Zum Beispiel, als diese bekennende Linke, Frauen- und Friedensbewegte im Alter plötzlich geradezu rührende Biografien über Rahel Varnhagen und Dorothea Schlegel schrieb.

Man muss sich Carola Sterns Weg noch einmal vor Augen führen, um diese Fülle an Leben zu begreifen: geboren 1925 als Erika Assmus auf Usedom, vaterlos aufgewachsen in Hitlerdeutschland, Lehrerausbildung. Sie wurde SED-Mitglied, besuchte die Parteihochschule in Kleinmachnow, machte in der Partei Karriere und ging 1951 in den Westen. In Berlin studierte sie Soziologie und Politik, arbeitete als Journalistin. Es folgten zehn Jahre als Lektorin beim Verlag Kiepenheuer & Witsch in Köln, bis sie 1970 dann zum Westdeutschen Rundfunk ging, wo sie als politische Kommentatorin eine einzigartige Frauenkarriere hinlegte.

Genug? Nein, genug war es für Carola Stern nie. Im Alter folgte Buch auf Buch, man konnte nur staunen, zuletzt schaffte sie mit „Auf den Wassern des Lebens. Gustaf Gründgens und Marianne Hoppe“ sogar den Sprung in die Bestsellerlisten.

Achtzig Jahre alt ist Carola Stern geworden, zwei Autobiografien hat sie geschrieben – „In den Netzen der Erinnerung“ (1986) und „Doppelleben“ (2001). Offen bekennt sie sich zu ihren Fehlern: ihrer „bescheuerten Gläubigkeit“ an Hitler und für einige Zeit auch an den Sozialismus. Eine Sensation war ihr spätes Bekenntnis, als SED-Mitglied für die CIA gearbeitet zu haben – sie war weit in ihren Siebzigern, als sie diese Doppelexistenz, mit der sie sich in der DDR in den Kalten Krieg verstrickt hatte, preisgab und sich freiwillig der Kritik aussetzte.

Aber das ist das vielleicht Bemerkenswerteste an Carola Stern: ihre Hellsicht, ihre Fähigkeit zum Wandel. Über das Dritte Reich hat sie auch ein Jugendbuch herausgegeben: „Eine Erdbeere für Hitler. Deutschland unterm Hakenkreuz“. Die Hitlerzeit „ist nicht nur Geschichte, sondern auch voller Geschichten, aus denen man lernen kann“, schreibt Ingke Brodersen im Vorwort. Und Carola Stern ruft vehement zu einem „Nie wieder!“ auf. Keine Angst vor Pathos! Auch das war ihr Motto. Unmöglich, es ihr übel zu nehmen – bei dem Leben.