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Archiv-Artikel

Im Waggon war noch Platz

STOLPERSTEIN FÜR ANNA AARON

Anna Aarons Ururenkelin ist acht. Sie schmückt den Stein mit Gänseblümchen

Ein handwerklicher Akt geht der Gedenkfeier voraus: Pflastersteine müssen entfernt werden, märkischer Sand wird ausgegraben. Dann wird der in Bernau hergestellte Stein eingepasst. Er besteht aus einer Messingplatte, die in einen kleinen Betonblock eingelassen ist. Es ist still in der Kulmbacher Straße in Wilmersdorf. Eine Violinistin spielt ein Stück von Tschaikowsky, das ein bisschen wie haTikwa, die israelische Nationalhymne klingt. Während der Bogen ruht, merkt man erst, dass es nicht ganz ruhig ist und auch vorher nicht ganz ruhig war. Aus einem der oberen Fenster des Fünfziger-Jahre-Baus dröhnen Staubsaugergeräusche.

Der Alltag geht weiter in Berlin, am Rande der Verlegung des Stolpersteins für Anna Aaron, so wie es weitergegangen ist, als Anna Aaron zusammen mit ihrer Cousine Lousia Bonwitt am 15. August 1942 deportiert wurde. Eigentlich hätten sie nach Theresienstadt geschickt werden sollen, aber dann gab es mehr Platz in den Waggons nach Riga, als von den Vernichtungsbürokraten geplant worden war. Das berichtete nach dem Krieg Cousine Gerta Bonwitt, die Theresienstadt überlebt hatte, der Familie.

Viele Familienmitglieder haben sich am Donnerstag in der Kulmbacher Straße eingefunden. Vier Enkelinnen Annas, alle Töchter von Anna Aarons Tochter Hanna, sind mit zwei Ehemännern aus Israel gekommen. Eine Schwiegertochter von Hannas Schwester Lotte, fünf Urenkelinnen und Urenkel sind da. Während der Zeremonie, in der Familienmitglieder auf Hebräisch und Englisch Erinnerungen teilen und aus den letzten Briefen Anna Aarons vorlesen, sammelt ihre acht Jahre alte Ururenkelin Gänseblümchen und Knospen auf der Wiese vor dem Haus und arrangiert sie um den Stolperstein.

Erst 1997, nach der Öffnung der Archive in Bad Arolsen, konnte herausgefunden werden, dass Anna Aaron drei Tage nach ihrer Deportation, der sie „ruhig gefasst“ entgegengesehen hatte, in Riga ermordet wurde.

Sigrun Marks von der Stolperstein-Initiative Stierstraße in Friedenau hat es durch ihr Engagement möglich gemacht, dass die Familie Anna Aarons bei der Stolpersteinverlegung dabei sein kann. Eine gute Woche zuvor haben Unbekannte auf der Haustür von Marks’ Mitstreiterin Petra Fritsche eine Warnung hinterlassen: „Vorsicht! Judenfreundin.“

Als die Familie von Anna Aaron in der Kulmbacher Straße leise und verhalten einen Psalm auf Hebräisch singt, hat der Staubsauger aufgehört zu summen.

ULRICH GUTMAIR