Zum Schluss viele Anlässe zum Niederknien

CANNES CANNES 9 Großer Endspurt beim Festival, mit neuen Filmen von Abdellatif Kechiche und Lav Diaz

Am Sonntagabend werden die Palmen verliehen. Natürlich ist es müßig, darüber zu spekulieren, welche Regisseure, Drehbuchautoren, Kameraleute und Schauspieler mit Preisen rechnen können. Wenn es um die weibliche Hauptdarstellerin geht, lässt sich aber eine Favoritin ausmachen, die junge französische Schauspielerin Adèle Exarchopoulos, die Abdellatif Kechiches dreistündigen Wettbewerbsbeitrag „La vie d’Adèle – chapitre 1 & 2“ mit einer selten zu erlebenden Sinnlichkeit füllt.

„La vie d’Adèle“ setzt die Graphic Novel „Le bleu est une couleur chaude“ von Julie Maroh um; der Film erzählt vom Coming of Age einer jungen Frau in Lille. Sie verliebt sich in eine andere junge Frau, macht Abitur, wird Grundschullehrerin, wird von ihrer Freundin verlassen und trauert. Kechiche geht dabei bisweilen etwas didaktisch vor; wenn etwa die Figur eines älteren Galeristen bei einer Party lang und breit über weibliche Jouissance schwadroniert, dann ist das plakativ, zumal es sich mit einer ausführlichen, zeigefreudigen Sexszene doppelt, die vor allem dazu dient, die staubig-differenzfeministische These von der maßlosen weiblichen Lust zu illustrieren. Aber wie diese junge Adèle ihre Spaghetti verputzt, wie ein Lächeln in ihr Gesicht tritt, wie sie errötet, wie ihr die Nase läuft, wenn sie weint, wie das Licht der Sonne in ihren hellbraunen Augen funkelt – das alles ist zum Niederknien.

Zum Niederknien bieten diese letzten Festivaltage noch mehr Anlass: Der philippinische Regisseur Lav Diaz hat einen neuen Film gedreht, „Norte, hangganan ng kasaysayan“ („Norte, the End of History“), der in der Reihe „Un certain regard“ läuft. Diaz ist bekannt dafür, in vielstündigen, schwarz-weißen Filmen Geschichte und Gegenwart der Philippinen zu erforschen; in Arbeiten wie „Evolution of a Filipino Family“ (2004) oder „Melancholia“ (2008) geht es – in der Tradition des Dritten Kinos – um Klassengegensätze, Armut, politische Verfolgung und Ausgeliefertsein.

Indem Diaz seine Plots nicht auf 90 Minuten staucht, sondern auf 600 Minuten ausdehnt, nähert er sich dem, was Paul Schrader in seinem berühmten Essay über den transzendentalen Stil als „Stasis“ beschreibt. Diaz versteht es, nicht aufhebbare Konflikte ohne falsche Besänftigungen zu verhandeln, zugleich knallt er seinem Publikum das Elend seiner Figuren nicht um Augen und Ohren. Das gelingt ihm etwa deshalb, weil er viele Einstellungen von narrativen Funktionen befreit: Dann sieht man Ziegen am Wegrand oder den Schattenwurf eines Baumes auf einer Gefängniswand.

„Norte“ dauert keine 600, sondern vergleichsweise kurze 250 Minuten, er ist in Farbe gedreht, und er lehnt sich lose an Motive aus Dostojewskis „Verbrechen und Strafen“ an. Ein Strang des Films folgt einem jungen Mann, der sein Jurastudium hinschmeißt, vor seinen Freunden zynische Reden über das Ende der Geschichte hält und ständig in Geldnot ist.

Der zweite Strang kreist um eine Familie von Eliza und Joaquín, die in bescheidenen Verhältnissen lebt; der Gang zur Geldverleiherin gehört zum Alltag. Die Geldverleiherin wiederum bildet das Scharnier zischen den beiden Strängen. Als sie ermodert wird, wird Joaquín, obwohl er die Tat nicht begangen hat, zu lebenslanger Haft verurteilt.

In einer Szene sieht man, wie Eliza den Anwalt aufsucht, damit er Berufung einlegt. Der Anwalt erklärt in einem langen Monolog, dass die Frist verstrichen ist und sich nichts mehr machen lässt. Er spricht Englisch und wirft mit Begriffen wie „appeal“ und „statutory period“ um sich. Irgendwann sagt Eliza: „Ich verstehe kein Englisch“ und sinkt auf ihrem Stuhl noch ein Stück mehr in sich zusammen.

CRISTINA NORD