: Alle Zweijährigen zum Arzt
Schleswig-Holsteins Grüne wollen nicht darauf warten, dass eine bundesweite Untersuchungspflicht für Kinder eingeführt wird, um Vernachlässigung und Missbrauch frühzeitig zu erkennen
von Esther Geißlinger
Eltern vernachlässigen ihre Kinder, der Staat reagiert zu spät: Seit dem Hamburger Fall „Jessica“ herrscht Einigkeit, dass es bessere Kontrollen geben müsste. Mehrere Bundesländer überlegen, wie so ein System aussehen könnte, aber eine bundesweite Lösung fehlt bisher. Die Grünen in Schleswig-Holstein wagen nun einen Vorstoß auf Landesebene: Sie wollen für die knapp Zweijährigen eine flächendeckende Untersuchung verbindlich machen. Am Donnerstag wird dieser Gesetzentwurf im Kieler Landtag beraten.
„Wir wollen die bestehenden Strukturen nutzen“, erklärt die sozialpolitische Sprecherin der Grünen, Monika Heinold. Denn: Im Alter von 21 bis 24 Monaten ist ohnehin eine Untersuchung fällig, die von den Krankenkassen bezahlt und von 70 bis 80 Prozent der Eltern wahrgenommen wird. Neu soll nun sein, dass das Gesundheitsamt alle Eltern auf diese Untersuchung hinweist und einen Beleg fordert, dass das Kind beim Arzt gewesen ist. Alternativ kann das Gesundheitsamt das Kind begutachten – kostenpflichtig. Denn Ziel sei, die Kinder in die Praxen zu bringen. Reagieren die Eltern nicht, müsste das Gesundheitsamt dem Jugendamt Bescheid geben, um den Fall prüfen zu lassen.
Erst hatten die Grünen überlegt, eine Untersuchung bei Dreijährigen zur Pflicht zu machen, berichtet Heinold. Das aber wäre teuer geworden – der Staat müsste dafür zahlen statt der Krankenkassen –, außerdem verstößt ein Pflicht-Arztbesuch gegen das Elternrecht. Ein Anreiz für eine ohnehin vorgeschlagene Untersuchung hingegen ließe sich auf Landesebene mühelos regeln, auch die Kosten hielten sich in Grenzen, meint Heinold: „Vielleicht kann man die Software verwenden, die auch für die flächendeckende Untersuchung der Schulpflichtigen verwendet wird.“
Teuer kann es dennoch werden: Denn Ziel soll nicht nur sein, einzelne Fälle von Vernachlässigung oder Misshandlung zu entdecken, sondern festzustellen, welche Kinder besonderen Förderbedarf haben: weil sie zu dick sind, zu spät sprechen lernen oder sich ungelenk bewegen.
„Aber wenn wir einen Konsens haben, dass Frühförderung wichtig ist, dann muss man auch Mittel dafür bereitstellen“, meint Heinold. Tatsächlich ist im „Kinder- und Jugendhilfeaktionsplan“, den Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) im vergangenen Jahr vorstellte, die Frühförderung als eine wichtige Säule genannt. „Da steht viel Gutes drin“, meint Heinold. Aber: „Bisher sind vor allem Dinge zusammengetragen worden, die es ohnehin im Land gibt.“ Neue Aktionen habe der „Aktionsplan“ noch nicht gebracht: „Und ich höre große Klagen von Leuten, die mit Kindern arbeiten.“ So hätte ein Amt eine Fördermaßnahme abgelehnt: „Begründung: Das Kind hat zwei Defizite – gefördert wird erst ab dreien“, berichtet Heinold. Darum ist die Grüne nun „sehr gespannt“, wie die anderen Parteien auf ihren Gesetzesentwurf reagieren. „Es kann sein, dass sie auf die geplante bundesweite Regelung hinweisen“, vermutet sie. „Aber das kann ein langes Verfahren werden.“
Immerhin hatte der Hamburger Senat am Dienstag der vergangenen Woche eine Bundesratsinitiative beschlossen, um neun Untersuchungen vom ersten bis zum fünften Lebensjahr verbindlicher zu machen als bisher. Auch das Saarland prüft eine solche Initiative. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte hat sich ebenfalls für ein solches Vorgehen ausgesprochen. Ablehnung kommt bisher von der Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen, einer ausgebildeten Ärztin. Sie halte nichts davon, Menschen zum Arztbesuch zu zwingen, sagte sie Ende des vergangenen Jahres. Stattdessen setze sie darauf, dass Hilfe – etwa von Hebammen und Jugendämtern – zu den Familien komme.