: „Geschichte ist nicht einlinig“
VORTRAG Historiker spricht über populäre Irrtümer, die über die Geschichte Bremens verbreitet werden
■ ist Historiker und leitet die Abteilung Stadtgeschichte am Focke-Museum.
taz: Herr Hofschen, was ist für Sie der eklatanteste historische Irrglaube, der kursiert?
Heinz-Gerd Hofschen: Dass Bremen die älteste Demokratie Deutschlands sei. Hier gab es vielmehr ein sehr langes Mittelalter. Die Ratsherrschaft, die über 500 Jahre geherrscht hat, war zwar eine nicht-feudale Regierungsform. Die Ratsherren aber entstammten den reichen Geschlechtern Bremens, mit Volksherrschaft hatte das nichts zu tun. Eine demokratische Verfassung gibt es hier erst seit 1919.
Wie steht es um die Weltoffenheit, die Bremen stets nachgesagt wird?
Das stimmt historisch betrachtet auch nicht ganz, ebenso die Vorstellung, Bremen sei seit jeher antifaschistisch und tolerant gewesen. Es gibt hier eine lange Tradition des Antisemitismus, während der NS-Zeit hat es genug willige Vollstrecker gegeben.
Wie kann es sein, dass das Stadtgedächtnis das ausblendet?
Mythen wie diese dienen immer der Identitätsbildung und haben Legitimationsfunktionen. Es ist angenehmer, ein Bild von einer Stadt zu zeichnen, in der die Vergangenheit strahlend weiß ist.
Andere finstere Kapitel der Geschichte werden aber sehr umfassend aufgearbeitet.
Das stimmt. Aber an diesen Irrtümern ist ja auch ein zutreffender Aspekt vorhanden: Es gab in Bremen immer Kräfte, die fortschrittlich, tolerant und antifaschistisch waren – aber das war nicht die ganze Stadt. Im Massenbewusstsein ist das allerdings nicht verankert. Geschichte ist nicht einlinig, durch die Klassengesellschaft gibt es immer zwei Geschichtskulturen. Da sollte man differenzieren. INTERVIEW: AG
20 Uhr, Villa Ichon, Goetheplatz 4